Uli Hannemann: Hamburger Frühstück

Das kleine Café bietet Sonntags ein Frühstücksbuffet an. Viele nette junge Leute sitzen an den kleinen Tischen mit den roten Plüschsofas und frühstücken gemütlich. Harmonisch sieht das aus, wie sich die netten jungen Leute von ihrer unheimlich interessanten und verantwortungsvollen Arbeit erholen. Das haben sie sich ehrlich verdient. Mit Beharrlichkeit und Einfallsreichtum trotzen sie der Krise. Harte Ellbogen? Klar – die muss man natürlich haben. Dann wird früher oder später alles besser. Für sie, hier in Hamburg-Winterhude.

Sie haben sogar schon kleine Kinder, die beiden jungen Frauen mit den beiden jungen Männern. Die wissen, was Verantwortung bedeutet. Ernsthaft blicken sie in die Welt.

Ihre alten Kumpels haben längst Reißaus genommen. Die wussten schon, wie der Hase lief, als das Pärchen damals zusammen gezogen ist und man bei denen nur noch auf dem Balkon rauchen durfte und selbst dann hat die nette junge Frau noch ernsthaft mit ihrer Ernsthafte-junge-Frauen-Frisur gewackelt. Irgendwann hat sich der nette junge Mann zum letzten Mal mit seinem ehemals besten Freund, der ihm auf einmal merkwürdig unreif vorkam, getroffen: »Weißte«, hat der nette junge Mann gesagt und dabei sehr reif und nachdenklich an seinem Malzbier gesogen, »weißte – ist nicht böse gemeint. Sind halt andere Zeiten jetzt. Machʼs gut, ne!« Die hartnäckigeren Kumpels haben sie durch Nichtbeachtung ausgehungert und diejenigen, die bis zum Ende rein gar nichts kapieren wollten, mit klaren Worten davongejagt. Sie brauchen sie nicht mehr.

Sie haben jetzt andere junge Eltern kennengelernt, den Dieter und die Frauke, mit denen können sie stundenlang frühstücken. Daneben sitzen die Kinder, schreien, werfen mit Essen und übergeben sich. Kinder schreien nun mal und werfen mit Essen und übergeben sich – das müssen die anderen Gäste doch verstehen. Aber was verstehen die schon? Was wollen Menschen ohne Kinder überhaupt groß vom Leben verstehen? Die sind doch noch gar nicht richtig erwachsen, die haben wahrscheinlich sogar noch Geschlechtsverkehr – brrr! Sind das überhaupt Menschen? Was machen die eigentlich hier, in unserem schönen Café für nette junge Leute?

Die netten jungen Leute unterhalten sich ganz toll über ihre Kinder. »Guck mal, wie Donald lacht!« Donald lacht nicht, aber egal. Erst als ein alter Mann über die kreuz und quer im Eingangsbereich abgestellten Kinderwägen stolpert, hellen sich seine mürrischen Baby-Züge ein wenig auf. »Guck mal, wie groß Sylka schon ist!« Sylka ist nicht gerade groß. Sylka macht gerade groß. Macht aber nichts.

Die netten jungen Frauen sprechen über ihre Kinder und wippen dabei ernsthaft mit den Pferdeschwänzen. Auch die Männer unterhalten sich miteinander, nicht über PS und Promille, sondern über Pampers und Popos. Sie haben es gut getroffen: raus aus der Krise, rin in die Mutti! Zärtliche Blicke streifen die Brut, allenfalls kurz und sehnsüchtig noch die Bedienung. Für die Mama bleibt da kein Moment der Aufmerksamkeit – das ist allerdings gegenseitig. Sie sind Hamburger, sie sagen »Seuchling« – das klingt ehrlicher, als es gemeint ist.

Illustration: Oliver Grajewski

Ständig holen sie sich was vom Buffet. Anstatt das Zeug selber zu essen, versuchen sie es so sinnlos wie ver-geblich ihren Kindern einzutrichtern. Die Babys spucken das Essen durch die Gegend, sabbern drauf und schmeißen es herum. Sie versuchen es mit sämtlichen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unbrauchbar zu machen und am Ende landet es grundsätzlich auf dem Boden. Die Eltern lachen. Manchmal dreht sich ein Elternteil sogar wie beifallheischend nach den anderen Gästen um: Sind die nicht putzig? Dann sofort wieder der scharfe Kontrollblick: Dass es bloß ja niemand wagt, hier zu rauchen! So unglaublich rücksichtslos kann doch im Ernst keiner sein!

Immer lauter schreit der kleine Donald am Nachbartisch. Die eine nette junge Frau sortiert raschelnd ihre Kleidung um und ehe der Gast sich versieht, landet eine schwere Brust klatschend zwischen erbrochenem Müsli und angekautem Brötchenteig auf dem Frühstückstisch, wird hochgehoben und das Kind daran gehängt. Glücklich nuckelt es an mit Semmelbröseln garnierter Titte. Wer das nicht sehen will, kann ja weggucken.

Wegriechen geht leider nicht. Die andere nette junge Frau legt die kleine Sylka auf den Rücken, zieht ihr das Strampelhöschen aus und reißt die Windel auf. Der Duft frischen Kaffees mischt sich mit dem süßlich-fauligen Aroma frischer Babyscheiße. Die Männer freuen sich und machen komische Geräusche, die Frauen ebenfalls. Ich möchte zahlen.

Zahlen ist jetzt schwierig. Weitgehend sediert und willenlos taumelt das Personal wie verkühlte Nachtfalter durch den Raum: Als sie vor vier Stunden das Unheil durchs Fenster nahen sahen, haben sie sich rechtzeitig die letzten Valium geteilt – eine Familienpackung im doppelten Sinn des Wortes. Ab und zu beseitigt die Bedienung noch den gröbsten Schmutz, bückt sich zu Füßen der netten jungen Frau, die kalt und ohne Dank auf sie heruntersieht. Sie hatte vorhin den Blick des netten jungen Mannes genau bemerkt – zumindest so weit ist der Instinkt noch wach. Das ist ihr netter junger Mann! Sie interessiert sich zwar im Grunde nicht die Bohne mehr für ihn, aber er kann immerhin wickeln und eine andere soll ihn schon aus Prinzip nicht haben. Wo kämen wir da sonst hin? So kommen wir doch niemals aus der Krise. Wie aus Versehen knackt sie mit einem scheinbar fahrigen Wischer des Ellbogens der Kellnerin das Jochbein.