Spider: Agenda 2050

Die Frau vom Amt hatte immer schlechte Laune. Wahrscheinlich weil sie jede Nacht von ihrem Mann verprügelt wurde. Immerhin, sie hatte eine Beziehung.

»Sie wissen, daß Sie zur Mitwirkung verpflichtet sind. Sie wissen es, weil ich es Ihnen schon hundert mal gesagt habe. Sie müssen sich aktiv bewerben.«

Ich hatte mich aktiv beworben. Ich hatte acht schriftliche Ablehnungen dabei. Acht, das war doch ganz beachtlich für vierzehn Tage.

»Haben Sie sich rasiert, waren Sie ordentlich gekleidet, sind Sie nüchtern erschienen?«

Als ob es darauf noch angekommen wäre!

Natürlich hatte ich mich immer rasiert. Gewaschen und gekämmt, mit Jackett und Hemd. Und getrunken oder, wie wir im Stübchen immer zu sagen pflegen, die polnische Fahne gehisst hatte ich auch nicht. Mich wollte einfach niemand. Nicht mal die schlecht gelaunte Frau vom Amt hätte mich genommen. Eigentlich war es mir auch egal. Ich war Langzeitjunggeselle.

Die geschwollenen Sachberaterinnenaugen überflogen die Ablehnungsschreiben: »…passt nicht zu mir…« – »…für den Haushalt absolut ungeeignet…« – »…sexuell leider enttäuschend…« und so weiter, die üblichen Floskeln eben.

Die verschorften Sachbearbeiterinnenmundwinkel taten so, als interessierten sie sich für Schwerkraft, sie sanken herab. Ich wusste immer, was sie dann dachte. Obwohl: Denken ist nicht das richtige Wort.

»Wissen Sie, was ich denke?« fragte sie, »ich denke, Sie geben sich überhaupt keine Mühe. Ich denke, Sie wollen gar keine feste Beziehung. Ich denke, Sie sind gerne solo.«Natürlich hatte sie recht. Um ehrlich zu sein, ich habe nie eine feste Beziehung gewollt. Noch ehrlicher, ich will auch jetzt immer noch keine. Obwohl ich mich mittlerweile ganz gut daran gewöhnt habe. Eigentlich denke ich auch heute noch, dass der Staat sich da raus halten sollte, aus dem Privatleben seiner Bürger. Mit dieser Meinung gilt man allerdings schon fast als gemeingefährlich.

»Sie sind ein verantwortungsloses, gefährliches Subjekt«, sagte der Sachbearbeiterinnenmund und ich versuchte nicht einzuatmen, »sie glauben, sie können sich um eine Ehe herumdrücken, auf Kosten der Allgemeinheit. Sie sind ein sexscheues Element.«

Sie hatte recht, innerhalb ihres Horizontes jedenfalls, die Sachbearbeiterin vom Standesamt.

Sie gab mir dann wieder ein Dutzend Adressen von Frauen aus ihrer Kartei. Die Altersspanne wurde immer größer. Mir war das recht. Es bedeutete mehr Chancen auf mehr Ablehnungen. Die acht Frauen, die mich in den vorangegangenen zwei Wochen abgelehnt hatten, waren zwischen vierundzwanzig und sechsundfünfzig Jahre alt gewesen. Die hatten es ja auch nicht leicht. Eine Ablehnung musste gut begründet werden. Ich selber hatte auch ständig Frauen Ablehnungen schreiben müssen. Die hatten meine Adresse vom Amt. Einmal hatte mich das Amt sogar zu einer Kontaktanzeige genötigt. Und dann gab es da noch dieses alberne Bewerbungstraining, wo man alle paar Monate hingeschickt wurde. Dieses Training bestand aus Tanzstunden, Kochkursen, Kraftsport für Männer, Aerobic für Frauen, Flirtseminaren und Stilberatung. Niemand sollte sich der Partnerschaft entziehen dürfen.

Dann rückten Bundestagswahlen näher. Natürlich wurden die Alleinstehenden zum Wahlkampfthema gemacht. Zu viele Singles. Die Opposition warf der Regierungskoalition geschönte Statistiken vor. In jeder Fernsehdiskussion ging es um Sex. Niemand sprach mehr über Kriegseinsätze der Bundeswehrmacht. Alle taten so, als seien die Singles, die Einspänner beiderlei Geschlechts, das drängendste gesellschaftliche Problem. Ein künstlich geschaffenes, meiner Meinung nach. Es hatte doch schließlich immer Singles gegeben.

Die Regierungskoalition aus CDU-CSU, Bündnis 90/Grüne und FDP/AO war politisch am abkacken. Sie versuchten noch, das Steuer herumzureißen mit einer Unterschriftensammlung für ein Sitzplatzverbot für Ausländer in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Es half nichts, Frau Dr. Rübe musste das Kanzleramt räumen. Die SPD gewann die Bundestagswahl, mit dem Slogan: »Es gibt kein Recht auf Keuschheit.« Sie kopierten einfach die Politik, die sie um die letzte Jahrtausendwende gemacht hatten, als plötzlich die Arbeitslosen zu einem Problem stilisiert wurden und auch keiner gefragt hatte, wozu eigentlich das Ganze.

Kurz nachdem die neue Kanzlerin Gerda Schulz ihr Kabinett vorgestellt hatte, wurde dann der Öffentlichkeit die Agenda 2050 präsentiert. Ein Reformpaket, das alle Bürgerinnen und Bürger fest im Hafen der Ehe vertäuen sollte. Alle waren begeistert. Die Unterstützung für dieses Projekt war überwältigend. Die Muslime als größte deutsche Religionsgemeinschaft allen voran. Die Hindus zogen nach. Die Lesben und Schwulen nicht minder.

Die Zumutbarkeitsklauseln für die Partnerwahl wurden verschärft. Man durfte nicht wählerisch sein. Manche mussten auch, wohl oder übel, mit zwei Partnern leben, ja sogar drei und mehr waren nicht ungewöhnlich. Wenn man schon nicht heiratete, hatte man seinen guten Willen zu beweisen, indem man wenigstens ab zu irgendwo rumbumste. Wer eine dieser elend teuren Kundenkarten vom Bordell hatte, den ließen sie oft in Ruhe.

Wir mussten auch bald lernen, Partner zu akzeptieren, obwohl deren Geschlecht gar nicht zur eigenen sexuellen Ausrichtung passte. Das hatten sich die Lesben freilich anders ausgemalt und die Schwulen auch, aber wenigstens war das keine Ungleichbehandlung gegenüber den Heterosexuellen. Die fanden sich auch immer öfter mit gleichgeschlechtlichen Partnern verkuppelt.

Auf diese Art sind auch Günther und ich zusammen gekommen. Günther ist nicht mein Fall, aber für eine Frau hätte ich nach Friedrichshain ziehen müssen. Wenigstens brauche ich mich im Moment nicht mehr alle vierzehn Tage auf dem Standesamt zu melden. Aber das kommt schon noch früh genug wieder. Gleich wenn die Probezeit um ist, werde ich mich von Günther trennen. Dann muss ich wieder aufs Amt zu der schlimmen Frau. Die ist immer unfreundlich – unzufrieden wahrscheinlich, mit ihrem prügelnden Mann. Die soll doch froh sein, die hat wenigstens eine Beziehung.