Bov Bjerg: Herzkrank

Wenn man morgens, lang nach Mitternacht, nach Hause kommt, mit einem Heißhunger auf Spaghetti, Nudelwasser aufsetzt, die Tomatensoße zubereitet, also Zwiebeln andünstet, Knoblauch dazu, Tomaten aus der Dose, Basilikum, Thymian, Oregano, Pfeffer, Salz, um, als das Nudelwasser kocht, festzustellen, dass keine einzige Nudel mehr im Haus ist, ein Vorgang, der in der Geschichte meiner Küche einmalig ist, aber wie soll man auch einkaufen gehen, wenn es mitten im Frühjahr tagelang regnet und schneit, das sind nämlich die sozialen Folgen der Klimakatastrophe, von denen redet kein Mensch - wenn man also mitten in der Nacht seinen Bauch mit trocken Brot und Tomatensoße füllen muss, dann fängtʼs ja schon mal gut an, dann muss man für die nächste Zeit mit allem rechnen.

Sie kam zur Tür herein und steckte die Wohnungsschlüssel gar nicht erst wieder ein. Sie legte sie auf den Tisch. Na gut, immerhin sagte sie nicht »es ist aus« oder so'n Scheiß. Neben die Schlüssel legte sie ein Buch, das sie sich ein paar Tage vorher geliehen hatte.
Du hast es schon gelesen?
»Ja.«
Und?
»Langweilig.«
Tür zu, und dann war sie weg, und ich war schneller mit ihr alt geworden, als ich mir das vorgestellt hatte.

Das kommt davon, wenn sich Frauen in einen vergucken, nur weil sie ihn auf der Bühne lustig finden. Privat bin ich nämlich überhaupt nicht lustig, sondern schüchtern und introvertiert bis zur Implosion. Schon immer. Bei der Eignungsprüfung für die Grundschule mussten wir auf Bildchen ankreuzen, wo sich die Maus versteckt hatte. Das war nicht besonders schwierig, weil die doofe Maus immer überall herausgeguckt hat. Ich war ruckzuck fertig und habe mich nicht getraut zu sagen, dass ich pinkeln muss, sondern einfach still vor mich hingeweint, bis die Lehrerin mich angesprochen hat. So schüchtern war ich als Kind, so schüchtern bin ich heute noch. Intelligent, ja, damit können Frauen was anfangen, aber wenn der Mann anfängt zu flennen, wenn er aufs Klo muss, das halten sie nicht lange aus.

Vor einiger Zeit hat mir ein alter Schulfreund gestanden, dass er manchmal am Ende von Mathearbeiten, wenn er sah, dass die Zeit nicht reichen würde, vor lauter Panik eine Erektion bekam, sogar einen Samenerguss. Sowas wie der Samenerguss beim Erhängen. Er war lange solo, aber in Mathe war er immer einer der Besten. Soviel zum Problem Schule und Ausfluss.

Abends lerne ich am Tresen einen jungen Mann kennen. Wir schütten uns unsre Herzen aus, labern, labern, labern – lange, leidvoll und langsam auch lallend.

Am nächsten Tag weckt mich relativ überraschend ein Herr in Uniform. »Hier haben Sie ihre Sachen zurück. Unterschreiben Sie bitte. Wissen Sie wo Sie hier sind?« Ich schüttle den Kopf. »Links raus gehtʼs zur U-Bahn.« Ich also rechts raus. Meine Brille ist weg und ohne Brille kann ich rechts und links nicht unterscheiden. Gegen Mittag erreiche ich einen S-Bahnhof.

Ich rufe ich den jungen Mann von heute Nacht an. Er sagt: »Das gleiche wollte ich eigentlich dich fragen.«
Wir rekonstruieren. Ich erinner mich an viele Biere und an den zweiten Whiskey, er erinnert sich an einen dritten.
»Naja, und ich weiß noch, wie du mich gefragt hast, ob ich schwul bin.«
Das klingt glaubhaft. Das ist eine von den zwei, drei Fragen, die ich immer stelle, wenn ich schon doppelt sehe. Beziehungsweise vier, sechs Fragen.
»Und jetzt überleg ich schon den ganzen Tag, also, seit ich überlegen kann, weil… ich bin nämlich so ein Nach-dem-zwölften-Bier…«
Ein Nach-dem-zwölften-Bier-Schwuler? Ja, was es nicht alles gibt. Ich auch! Wir lachen ein bisschen ratlos. Aber selbst wenn da noch was war, stellen wir fest, zum Austausch nennenswerter Mengen von Körperflüssigkeit dürfte es kaum noch gekommen sein. Sex nach dem zwölften Bier ist absolut safe.

Nächster Tag: Bei Fielmann, meinem Augen-Aldi, bestelle ich eine neue Brille. Keine Angestellte mit weniger als zwei Dioptrien. (Keine Psychologie-Studentin mit weniger als zwei Neurosen.) Ich werde mich hüten, mit einer Optikerin anzubandeln. Brillenträger können miteinander nicht glücklich werden. Beim Küssen verhaken sich dauernd die Gestelle, da kann überhaupt keine Stimmung aufkommen, die Brillen fallen runter und gehen kaputt. Oder beide nehmen ihre Brillen ab, bevor sie sich küssen, aber das kann man nur tun, wenn man allein ist, denn sonst beömmeln sich alle Unbeteiligten, wenn die beiden Blindfische nach ihren Mündern tasten. Außerdem bekommen zwei Brillenträger mit großer Wahrscheinlichkeit ein brillentragendes Kind, mit zwei plus zwei gleich vier Dioptrien. Und wo das hinführt, kann sich jeder leicht vorstellen: Ein paar Generationen später haben 70 Prozent der Bevölkerung Augen wie die Luchse, die restlichen 30 Prozent sind blind wie Maulwürfe und müssen ihr Dasein beim U-Bahn-Bau fristen. Nichts gegen U-Bahn-Bau, aber meine Nachkommen sollen es einmal besser haben.

Dann: stechende Schmerzen. Linke Brust, Herzgegend. Das muss eine Herzmuskelentzündung sein. Oder ein Herzinfarkt. Vielleicht sogar zwei. Scheiße, wenn ich jetzt zum Arzt gehe, liege ich zack im Krankenhaus. Das erste Mal in meinem Leben. Hausgeburten wie ich kommen aus dem Krankenhaus nicht mehr lebend raus. Mein Bettnachbar wird garantiert dauernd fernsehen, volle Lautstärke, weil er beim Herzinfarkt auch noch einen Hörsturz hatte. Ich stecke meine Zahnbürste ein, und Oropax, und gehe zum Arzt. Vielleicht sollte ich noch schnell eine Lebensversicherung abschließen. Auf den Namen meiner Verflossenen. Dann ist sie beschämt, wenn ich tot bin.

Im Wartezimmer muss ich einen Fragebogen ausfüllen. Ich habe gottseidank nur Asthma, und auch das nur, wenn die Pollen fliegen. Und wenn ich im Sommer an der See bin, ist auch alles prima. Jetzt die akuten Symptome. Ich mache mein Kreuz bei »Herzschmerzen« und, wo ich schon dabei bin, bei »nächtliches Schwitzen«.
Der Arzt: »Heuschnupfen-Asthma? Au, au…«
Du Torfnase, denke ich, ich habe zwar tausend Allergien, aber so ganz nebenbei habe ich auch noch einen Herzinfarkt oder zwei.
Der Arzt: »Wissen Sie, wohin so ein Heuschnupfen-Asthma führen kann?«
Ja. Wenn die Mutter meines Kindes auch Asthma hat, dann werden unsre Nachkommen sämtliche Nordsee-Inseln bevölkern müssen. Was ist daran so schlimm? Allemal besser, als unter Tage zu leben.
Der Arzt: »Wo tutʼs denn weh?«
Da.
Er bleibt gelassen. Natürlich, ein Arzt darf sich nichts anmerken lassen. In Gedanken sucht er nach der Nummer des Notarztwagens. Er knetet meinen Brustkorb. Knetet, knetet, knetet. War bestimmt mal Bäcker. Eigentlich sein Traumberuf. Dann: Mehlstauballergie, Umschulung zum Arzt. Aber er kommt einfach nicht davon los.

Au!!! Genau überm Herz tutʼs höllisch weh.
»Ja, das liegt weiter außen. Das Herz ist es nicht. Das würden Sie beim Drücken gar nicht spüren. Wahrscheinlich hamm Sie sich da ʼnen Zug geholt, oder ʼne Zerrung. Ich verschreib Ihnen mal ʼne Salbe.« Hm. Wenn er bloß nicht diesen gelangweilten Ton in der Stimme hätte.

Er verschreibt mir allen Ernstes eine von diesen Nullachtfuffzehn-Sportverletzungs-Salben. Nichts Ernsthaftes. Kein Infarkt, kein Brustwarzenunterbodenkrebs. Nicht einmal ein Herzmuskelkater. Aber kann man der Diagnose eines Bäckers glauben?

Der Tod ist weit weg. Für meinen Geschmack fast zu weit. Ich fühle mich nicht mehr scheiße, sondern nur noch leer. Leer und sinnlos. Jetzt eine Frau sein. Einen netten Mann kennen lernen, Kind machen lassen, Mutter sein. Ungefähr so leer und sinnlos fühle ich mich. Auf dem Nachhauseweg kauf ich zwei Kilo Spaghetti.