Frank Sorge: FAZ gegen TAZ

Ganz aus Gewohnheit stapfe ich nach dem Aufstehen zur Wohnungstür, öffne sie und beuge mich halb schon herab. Aber hier liegt nichts mehr, ein blanker Flurboden sagt: »Guten Morgen« und »Hier gibts nichts zu sehen« und »Ach heute ist wieder Putztag, ich freu mich schon«.

Ich bereite mir einen großen Glaskanister Latte Perfetto Sorgensis, das ist ein schwerer Kübel mit zweikommaachtfachem Espresso in edel verschäumter Vollfettfrischmilch, werfe ein paar Aufbackbrötchen in den Ofen und quäle noch ein Ei, gespiegelt oder weichgekocht, spätestens jetzt beginnt die große Leere. Ein ganzes Jahr lag jetzt die FAZ bei uns vor der Tür, plötzlich ist sie weg, einfach so. Das Spezial-Abo für baldige Großverdiener galt ein Jahr und kostete uns standesgemäß nichts oder fast nichts, auch ein Abbestellen war nicht nötig, die Jahresuhr war einfach abgelaufen und plötzlich nur der blanke Flurboden vor dem zerzausten Vorleser und der Frau Ingenieurin.

Meinem Image im Haus hier im Wedding wird es vorerst besser bekommen. Die Frankfurter Ex-Frakturschrift-Zeitung allein wird vielen verdächtig gewesen sein, dazu lag sie oft unbehelligt bis an die Mittagsstunde noch vor der Tür. »Was für ein fauler Aufstehsack, so ein später Wurm«, werden sie gedacht haben, und dann noch dieses Angeberblatt vor der Tür. Jetzt werden sie vielleicht aufschauen, acht Uhr morgens, die Zeitung nicht mehr da. »Endlich hat der Sorge einen ordentliches Rhythmus«, werden sie vielleicht denken, dass die Zeitung gar nicht mehr kommt, wird erst langsam durchsickern.

Allerdings ist unsere Etage seit einem Jahr Schauplatz eines subtilen Kulturkampfs, sollte sich jemand dafür interessiert haben, wird er oder sie vermutlich doch schnell die richtigen Schlüsse ziehen. Unsere Nachbars-WG hat jedenfalls die taz abboniert, so dass in unserem Flurstück ein Jahr lang FAZ gegen taz kämpfte. Die Fronten der Etage waren klar, hier die Ex-Studenten mit dem latent konservativen und gegenüber die Bachelor und Master von morgen mit dem alternativen Blatt. Wer also würde sie später als der andere in die Wohnung tragen, jeden Tag neu die Frage.

War die taz als erstes aus dem Hausflur hineingebracht, konnte man den Aktiv-Studenten einen gewissen Eifer für den hellen Teil des Tages nachsagen, schwächte also ihr Studenten-Image in den Sparten Coolness und subversive Energie. Wenn ich die FAZ hineinholen wollte, sagen wir mal vergleichsweise früh um zehn Uhr, und ihre taz war schon verschwunden – dann schloss ich die Tür immer wieder lächelnd und ließ die FAZ noch eine Weile im Flur. Jede weitere Stunde schlug jetzt voll auf mein Punktekonto in den Kategorien Verlotterung und künstlerische Freiheit.

Konnte ich es an einem Tag nicht weiter hinausschieben mit der Zeitungslese, die taz gegenüber lag aber noch mit viel Sitzfleisch vor der Studententür, büßte ich die entsprechenden Punkte ein, ihnen sei es gegönnt. Nicht selten lag sie um 14 Uhr immer noch da und lachte mich Möchtegern-Fazisten höhnisch aus.

Vor dem letzten Urlaub klingelten wir gegenüber bei den Nachbarn, ob sie unsere FAZ nicht für die Tage mit zu sich hinein nehmen könnten. Waffenstillstand also, ein paar Tagen Nullrunde im Zeitungskampf. Die Falle war gestellt, aber sie fielen nicht drauf hinein. Vielleicht möchten Sie ja einmal hineinsehen ins Gegnerblatt, dachte ich, mal ein paar Vergleiche anstellen und eine gründliche Analyse vornehmen. Nach der Rückkehr überreichte mir die WG dann aber knallhart einen völlig ungelesenen Frankfurter Stapel, herber Rückschlag.

Nun müssen wir unsere neuen Zeitungsstrategien planen, doch wieder ein Jahr Financial Times (kann man sich in diesen Zeiten eigentlich nicht erlauben) oder mal wieder die Neue Zürcher Galakanone auf die schmale taz gegenüber richten? Allein die Kasse gibt beides nicht her – oder eine flotte Frankfurter Nachbestellung? Ohne Zeitung jedenfalls zittern mir fast die Hände und ich weiß nicht wohin mit dem Hirn kurz nach dem Aufstehen. Zur Beruhigung bringt meine Freundin aus dem Flur das Bezirksblättchen Berliner Woche mit, die Lokalausgabe für den Wedding. So muss sich Methadon anfühlen, denke ich beim Durchblättern der Stadtteilsnachrichten, hinterher studiere ich aus Verzweiflung noch das Fernsehprogramm der Einkauf Aktuell.

Wie eine leere Hülse hocke ich ohne Zeitung vor meinem Kaffeekessel, zähle die Krümel auf dem Tisch. Vielleicht steige ich jetzt um auf Netznachrichten, aber es fällt schwer, denn ich brauche die analoge Zeit vor dem täglichen Wegströmen ins Weltbewusstsein. Als hätten die Studenten von unserem Elend erfahren, ist ihre taz in den letzten Tagen besonders früh weg vom Flur, der Sieger steht ja fest, wir wurden disqualifiziert.