Ingo Klopfer: Das erste Mal

Noch heute höre ich das Geräusch der ersten Tropfen, wie sie in der lauen Sommernacht auf das Gras aufschlagen. Gefolgt von einem kurzen klaren Strahl, der dann in einem letzten Tröpfeln versiegt. Die Stille danach. Dann kommen die Bilder zu dieser Erinnerung dazu. Die dunklen, schattenwerfenden Grabsteine in der mondhellen Nacht und der Baum, auf dem Ankie leicht schwankend hockt und mir zuruft:

»Hilfst du mir jetzt wieder runter?«

Erst nach dieser Szene geht meine Erinnerung weiter zurück. Da ist die Sonnwendfeier im Jugendhaus in Göppingen und wie die gut sieben Jahre ältere Ankie sich zu mir gestellt hatte. Vor meinen Freunden war mir das damals ziemlich peinlich, denn seit einem Jahren probte und praktizierte ich die typischen Posen eines Kleinstadt-Waves und hatte es in Sachen Coolness inzwischen schon weit gebracht. Ich konnte den lässigen, leicht müde wirkenden Gang, ich trug eng anliegende, schwarze Hosen und passendes, schwarzes No-Fun-T-Shirt Sommers wie Winters. Meine hellen Augen hatte ich mit Kajal untermalt und übte fortwährend den viel besungenen Polarblick der Deutschen Welle. All das unterstrichen mit einem abgemagerten Körper und einem bleichem Gesichtteint. Diese Eigenschaften erzielte ich durch konsequente Ernährung: ungebackenen Toast mit Ketchup und viel schwarzen Kaffee zu allen Mahlzeiten – und gelegentlich half ich auch mit bleichendem Babypuder nach. Meine ungesunde Ernährung verhalf mir zusätzlich zu Magenschmerzen, die mich krank und leidend aussehen ließen. Ich war der Weltschmerz in Person.

An diesem Abend stand plötzlich die schöne, durchaus weibliche, lebenslustige und übertrieben farbenfroh gekleidete Ankie neben mir und sagte:

»Lach doch mal. Wenn du lachst, siehst du nämlich richtig süß aus!«

Ich war so überrumpelt und in meinem eingeübten niemals lachen oder Süß sein so erschüttert, dass ich nicht mehr sagen kann, ob ich dann gelächelt habe. Meiner Erinnerung nach kann es höchstens ein verzerrtes Grinsen gewesen sein. Sie lachte mich an oder aus, ging kurz weg und kam mit zwei Gläsern Wein und einem Joint wieder.

So sehe ich noch heute diese Szene genau vor mir, als wäre sie als ewiges Erinnerungs- und Beweisfoto in meinem Kopf archiviert worden:

Ich, cool und bleich mit schwarz gefärbten Haaren und einem Bein lässig an die Wand gelehnt. Daneben Ankie, hennarothaarig, barfuß im roten Samtrock und bunter indischer Weste über einem grünen Schlabber-Shirt. Wie ich dann langsam, aufgrund meines leeren Schwarzer-Kaffee-Magens und dem ungeübten Umgang mit Marihuana, von Wein und Drogen überwältigt und völlig uncool auf den Boden hinunterglitt und mit einem Brechreiz kämpfte. Wahrscheinlich hatte diese ganze verdammte Kleinstadt dabei zugesehen und über mich gelacht.

Irgendwann muss sie mich dann hochgezogen, untergehakt und zu diesem Spaziergang auf diesen verdammten Friedhof mitgeschleppt haben. Denn ich kann mich erst wieder daran erinnern, dass wir uns zwischen den Gräbern ins Gras gesetzt hatten und sie mir, dem knapp 17-Jährigen ihre marihuana-, javaansetabak- und weindurchtränkte Zunge tief in den Hals geschoben hatte. Mir war schon schlecht. Als aber ihre Zunge dann an das Zäpfchen meines Gaumens stieß, gab es kein Halten mehr und ich düngte das nächstbeste Grab. An den Namen des betreffenden Verstorben kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, dass das erloschene ewige Licht danach nicht mehr brennen wollte – trotz mehrfacher Versuche meinerseits, die Kerze wieder anzuzünden.

Ankie lachte nur, bot mir eine Zigarette mit Mentholgeschmack an und wollte weiter küssen.

Irgendwann sagte sie: »Ich habe jetzt Lust von einem Baum herunterzupinkeln!«

»Was?«

»Ich muss mal! Ich will jetzt von dem Baum dort runterpinkeln. Hast du das noch nie gemacht? Das ist toll. Hilfst du mir bitte hoch?«

»Wie?«

Ich erinnere mich wie ich mich mit Mühe aufraffte und mich gegen den Baumstamm lehnte, meine Hände zu einer Bubenleiter geformt und ihr so auf den Baum klettern half. Ich wollte mich natürlich abwenden, aber sie rief: »Bin gleich fertig. Lauf nicht weg, sonst komm ich nicht wieder runter.«

Verschämt sehe ich zu, wie sie mit nackten Po über dem untersten Ast hängt, ihren Rock zum Bauch hochgeschoben, das Höschen als winziges Segel gespannt vorne zwischen den Füßen … wie sie zu pinkeln beginnt. Tröpp-tröpp-tröpp , pssssssst, tröp-tröp … zisch. Und ein weiteres ewiges Lämpchen hauchte seine letzte Flamme aus.

Als sie dann wieder vom Baum herunter geklettert war und ihre Zunge erneut mit meiner zu verknoten versucht hatte, flüsterte sie mir ins Ohr: »Ich will jetzt mit dir schlafen. Hihi!«

Ob ich in dieser Nacht vom Jungen zum Mann wurde, ist selbst mir ein drogenumwobenes Geheimnis, aber meist datiere ich so.

Aber lange später noch, wenn ich mich an Ankie, diese Nacht mit ihren Gerüchen und Geräuschen erinnerte und mich dabei selbst befriedigte, erregte es mich besonders, den Wasserhahn nebenher leise tröpfeln zu lassen.