Heiko Werning: Haus Bottrop

Samstagabend im Wedding, ich bin auf dem Weg zu einer Lesung. In einem Haus Bottrop soll sie stattfinden, in der Schönwalder Straße. Ich bemerke sie zu spät, die drei Jungmänner mit offensichtlichem Migrationshintergrund. Der Boss des Trios tänzelt mit Hiphop-Bewegungen prompt neben mir her. Ich seufze. Höhe Schönwalder 31, Haus Bottrop trägt die Nr. 4 – das wird anstrengend. Zunächst reagiere ich, wie man es im Grundkurs »Berlin für Zugezogene« lernt: freundliches Ignorieren. Nicht zu böse gucken, nicht darauf einsteigen, einfach weitergehen. Bis Nr. 29 greift die Strategie, dann eröffnet der Bengel das, nun ja, Gespräch. Einleitend die üblichen Versatzstücke über meine Figur, wobei ich »Moby Dick« sogar ganz originell finde. Offenbar habe ich es mit intellektuellen Ghetto-Bewohnern zu tun. Überhaupt wirkt der Junge nicht unfreundlich, sein Grinsen hat etwas schwer auslotbares Spöttisches.

»Moby Dick!«, ruft er zum wiederholten Mal. Nr. 25.

»Ja, Queequeg«, antwortete ich nun, aber ganz so weit her ist es dann wohl doch nicht mit seiner Literaturkenntnis, er schaut kurz verständnislos, dann fährt er fort.

»Moby Dick!« Nr. 23. Ich gehe weiter.

»Ey, wir sind voll die Ghetto-Kids!«, stellt er sich und seine Freunde nun erst einmal vor. Immerhin höflich.

»Ja klar, seh ich doch.«

»Ey, voll die Ghetto-Kids! Voll perspektivlos, weißte?«

»Ja sicher. Schön.«

»Ey, nix schön! Voll das Ghetto!«

»Ja, ich weiß. Ich wohne hier auch.«

»Ey, das ist ein Überfall.«

»Ja, sicher«

»Ey, das ist ein Überfall! Wir sind voll die krassen Ghetto-Kids, und das hier ist ein verfickter Überfall. Los, dein Portemonnaie und dein Handy.« Er grinst.

Nr. 15, die Sache wird mir unheimlich. Einerseits: Die Jungs sehen definitiv nicht gerade furchteinflößend aus. Andererseits steht es einem dann doch plötzlich vor Augen, das Bild vom Wedding-Adoleszenten »südländischen Aussehens« aus B.Z. und SPIEGEL. Klar, jahrelang habe ich mich lustig gemacht darüber, aber nun stehen drei so Abziehbilder plötzlich vor mir: »Wir sind bewaffnet, Mann!« Tja. Sieht gar nicht danach aus. Aber wer weiß schon, was die so alles unter ihren aufgeplusterten Jacken tragen?

»Los, dein Portmonee!« Klar in der Sache, scherzhaft im Tonfall. Entweder habe ich hier die lustigsten kriminellen Homies des Kiezes Reinickendorfer Straße vor mir, oder eben einfach gelangweilte migrationshintergründische Jugendliche, die genau wissen, was in den Medien über gelangweilte migrationshintergründische Jugendliche steht und was demnach Leute wie ich für Bilder über gelangweilte migrationshintergründische Jugendliche im Kopf haben, und mein Gesprächspartner will nur mal die Klischees ein bisschen ausspielen, sozusagen eine Art Meta-Pöbeln. Nr. 12.

»Ey, du glaubst uns nicht, aber das ist ein Überfall. Du gibst uns jetzt dein Handy und dein Portmonnaie!«

»Ich habe überhaupt kein Handy.«

Das verwirrt ihn einen kurzen Moment, man sieht deutlich, dass er diese Möglichkeit nicht bedacht hat.

»Hast du vergessen, oder was? Hast du Handy vergessen?«

»Nee, ich hab einfach keins.«

»Kein Handy?« Er ist kurz fassungslos, fängt sich aber schnell wieder. »Tja, Pech, dann kannst du nicht mal Polizei rufen.«

Punkt für ihn. Er grinst breit. Nr. 8. Jetzt kommt die blöde Panke, die irgendwelche irren Stadtplaner hier nicht unter die Erde verlegt, sondern mit so einem bekloppten Naherholungsgrünstreifen umsäumt haben, ein paar Meter nur, aber eben ein paar Meter, wo man jemand schön ins dunkle Gebüsch zerren könnte, was ein Überfallszenario doch erheblich realistischer erscheinen ließe, hat er das etwa mit einberechnet?

»So, und jetzt Portmonnaie.«

Illustration: Josh Baumann

Ich bin wirklich kein Held. Normalerweise würde ich bei einem Überfall ohne Faxen alles rausrücken. Aber war das hier überhaupt einer? Könnte ich ihnen dann nicht auch gleich ins Gesicht rufen: »Ihr Scheiß-Kanacken seid ja sowieso alle kriminell«?

Die bekloppten Stadtplaner haben genau bei der Panke-Brücke auf jede Straßenbeleuchtung verzichtet, sehr pfiffig. Wahrscheinlich haben sie gedacht, dass nachts eh keiner mehr am Fluss entlang läuft, wozu also Licht. Oder das ist irgendeine irre Naturschutzmaßnahme, damit die Fische nicht geblendet werden. Oder die Schildkröten, wenn sie zur Eiablage an den Pankestrand kriechen. Wie dem auch sei, die Straße wird merklich dunkler und gleich wirken die Jungmänner einen Zacken bedrohlicher. Auf der anderen Seite leuchten die Wohnsilos, eines davon muss die Nr. 4 sein. Herrjeh, die meinen das doch nicht ernst? Und überfallen mich hier gerade? Mich!? Ich merke, dass ich die bloße Möglichkeit, ich könnte im Wedding überfallen werden, als persönliche Beleidigung empfinde. Das können die doch nicht machen!

»Hört mal zu, Jungs«, der Fluss ist überquert, wir bewegen uns auf die nächste Laterne zu, »ich soll hier bloß ein paar Geschichten vorlesen, das ist alles, ein paar Geschichten, hört ihr?« Mein Gegenüber ist offenkundig irritiert, aber ich erkläre weiter: »Auf so einer Feier. Von irgendwelchen Leuten, die hier im Kiez politisch was machen, versteht ihr?«

»Politik? Ach du Scheiße. Bist du CDU, oder was?«

»Seh ich so aus?«

»Keine Ahnung«, er mustert mich, »du siehst scheiße aus.«

Jetzt werde ich doch langsam unwirsch. »Hör mal ...«, hebe ich an.

»Schon gut, ich mein nur, ey, guck mal, deine Hose, deine Jacke, das ist doch voll kein Styling! Das sieht doch scheiße aus! So kannst du doch nicht auf ’ne Feier gehen.« Das hätte meine Mutter ganz ähnlich formuliert.

»Und Politik, ey, scheiße, da gibt’s doch keine geilen Weiber!«

»Nee, wahrscheinlich nicht«, pflichte ich ihm leicht resignierend bei, »aber ich will ja auch keine Frauen aufreißen, ich will Geschichten vorlesen.«

»Wie, du willst keine Frauen? Bist du schwul, oder was?« Jetzt grinst er wieder: »Ey, ist das nicht voll eklig, wenn Männer mit Männern rummachen?« Er weiß, was von ihm als korrekten Migranten erwartet wird, er grinst genau so, dass man sieht, dass er das weiß, und ich weiß doch nicht, was er will. Außer womöglich Geld: »Schluss jetzt, dein Portmonnaie!«

Auf der anderen Straßenseite leuchtet die Nr. 5, ein 70er-Jahre-Betonwohnsilo, ich zeige rüber und sage, dass ich da hin muss. Er lacht auf: »Na klar.« Zugegeben, nach Lesung sieht das nicht aus.

»Nein, äh, ich muss in die Nr. 4, Haus Bottrop heißt das.«

»Das ist dahinter, komm, wir zeigen’s dir.«

Eine Falle? Wir gehen in einen dunklen Gang, fieberhaft blicke ich mich um, warum ist denn hier niemand, verflucht...

Plötzlich taucht vor uns die Nr. 4 auf, Haus Bottrop steht in großen Graffiti-Buchstaben an der Wand, ein Schwung der Aktivisten steht davor, es ist wohl geschafft.

Die Jungs gackern laut, dann verabschieden sie sich artig per Handschlag und verschwinden im Durchgang zwischen zwei Betonsilos. »Nächstes Mal nehmen wir dein Geld!«, ruft der eine noch.