Uli Hannemann: Damals bei uns zu Haus

Gerne erinnere ich mich an früher. Wir führten ein Leben in Harmonie, Frieden und vor allem Sicherheit. Mein Vater war nämlich Dorfpolizist.

In seiner blauen Uniform patrouillierte er den ganzen Tag die Dorfstraße rauf und runter und wedelte gekonnt mit dem Knüppel. Das war cool – die anderen Kinder beneideten uns. Gab es Verdachtsmomente, patrouillierte er auch nachts, und es gab viele Verdachtsmomente, oh ja. Sobald er beim Abendessen sein ernstes Gesicht aufsetzte, und sagte, »Kinder – ich denke, heute gibt es wieder einige nicht unerhebliche Verdachtsmomente da draußen«, war klar, was die Stunde geschlagen hatte. Mutter unterdrückte tapfer die Tränen. Er wies sie an, Türen und Fenster sorgfältig zu schließen, die Messer zu schärfen und unseren Hund Erik nicht zu füttern, um ihn zornig zu machen. Anschließend ging er.

Wenn er morgens müde nach Hause kam, fehlten regelmäßig Knöpfe an der Uniformjacke, an der Hose war der Reißverschluss kaputt und der Knüppel war ganz krumm und blutig. Dafür brachte er manchmal schöne Sachen mit, die die Räuber auf der Flucht hatten fallen lassen: Hühner, Tafelsilber und elektrische Geräte – als Dorfpolizist durfte er das alles natürlich behalten.

Nach einem starken Kaffee ging es in der Ersatzuniform gleich zurück auf die Dorfstraße. Nur zur Mittagspause kam Vater kurz nach Hause. Während einer aufreibenden Doppelschicht konnte er schon mal recht fuchsig werden. »Mutter, das Essen schmeckt nicht«, brauchte er dann nur zu sagen und Mutter wusste sofort Bescheid: Das Dorfgefängnis war innen gar nicht so freundlich, wie es von außen wirkte mit seinem hübschen roten Giebeldach und dem großen Balkon, auf dem die Gefangenen standen und Geranien gossen. Meistens war aber alles gut, wenn Mutter nur rasch in die Küche sprang und neues Essen kochte. Vater war gar nicht so schlimm, doch Ordnung musste halt sein. Er war nun mal der Dorfpolizist.

Illustration: Josh Baumann

Das war auch nicht immer ganz einfach. Es gab Tage, da wurde er ganz besonders ernst und seufzte sogar hin und wieder. Er nahm die große Pistole aus der Küchenschublade und die Schachtel mit den Silberkugeln unten aus dem Schlafzimmerschrank. Sorgfältig schrubbte er die Waffe mit Spüli und lud dann so viele Kugeln hinein, wie reinpassten. Den Rest steckte er in die Uniformhosentasche, schnäuzte sich noch mal geräuschvoll in sein großes Polizeitaschentuch und verließ das Haus. Nach all den Jahren wussten wir die Zeichen längst zu deuten: Allgemeine Verkehrskontrolle.

Nur wenig später hörten wir bereits die ersten Schüsse über die Dorfstraße peitschen. Es war immer dasselbe: Irgendwelche Fremden, die nicht aus unserem Dorf waren, fuhren viel zu schnell durch unser Dorf hindurch. Doch sie hatten nicht mit Vater gerechnet. Der passte auf wie ein Schießhund. Er war der beste Dorfpolizist überhaupt – das stand auch so auf einer Urkunde, die bei uns im Wohnzimmer über dem Sofa hing: »Bester Dorfpolizist überhaupt. Gezeichnet: Der König.«

Diejenigen Fremden, die die allgemeine Verkehrskontrolle überlebten, wanderten für immer ins Dorfgefängnis. Eigentlich selber schuld, doch wenn Vater nach einem solchen Tag nach Hause kam, war er stets sehr still. Immerhin hatte es Tote gegeben – so etwas nahm er nicht auf die leichte Schulter. Er schoss im Grunde überhaupt nicht gern auf Menschen, doch manchmal ging es halt nicht anders.

Ja, der gute Vater. Heute ist er längst in Rente. Im Pflegeheim patrouilliert er in seinem blauen Schlafanzug den Gang rauf und runter, den Knüppel in der linken und die Pistole in der rechten Hand. Wenn wir ihn besuchen, fragt er oft nach Mutter. Doch wir können ihm nicht viel sagen: Die Besuchszeiten im Dorfgefängnis sind sehr ungünstig – das müsste eigentlich er am besten wissen.