Ahne: Die Pflicht

Ein Kinderbuch. Wie schreibe ich ein Kinderbuch? Ich soll doch ein Kinderbuch schreiben. Ich bin einer von acht Autoren, die noch nie ein Kinderbuch geschrieben haben, und die jetzt eben eines schreiben sollen. Sonst werden sie aus der Gewerkschaft geworfen, der Schriftstellergewerkschaft, und dann bekommen sie keine bunten Marken mehr, die sie in ihre Mitgliedsausweise kleben dürfen. Ich will die aber, die Marken!

Was lesen Kinder denn so, heutzutage? Harry Potter? Tintenherz? Feuchtgebiete? Hmm. Ich will aber nicht so was Langes schreiben. Ich schreibe lieber was für kleinere Kinder. Ich schreibe was für 5-Jährige. Was Sozialkritisches für fünfjährige Kinder. Da ist zum Beispiel Kevin. Oder nein, Kevin klingt zu belastet. Nehmen wir lieber..., nein, doch Kevin. Der heißt nun mal so, warum sollte ich mir dann die Mühe machen mir einen anderen Namen auszudenken. Kevin ist fünf Jahre alt und Kevin ist allein zu Haus. Kevin ist allein zu Haus in einer Stadt ohne Namen, einer kleineren Großstadt mit Einkaufszentrum, aber ohne Namen und ohne Fernsehturm. Kevin ist fünf und seine Eltern sind Mama und ihr Freund. Kevin mag den Freund von Mama, obwohl der ihn manchmal haut, aber manchmal mag er ihn auch nicht. Manchmal will er nur seine Mama, aber Mama will das nicht. Mama sagt dann: »Hab dich nich so!« Dann hat sich Kevin nich so. Wenn Kevin sich nämlich so hat, dann geht Mama weg, für immer, hat Mama mal gesagt, und das wäre schlimm für Kevin. Denn dann würde er keine Schokolade mehr kriegen. Manchmal bringt Mama nämlich viel Schokolade mit. Mama will dann ihre Ruhe. Mamas Freund will immer seine Ruhe.

Kevin will mal Müllfahrer werden, wenn er groß ist, oder Soldat. Wie im Fernsehen. Soldaten sind sehr stark. Sie sind immer gut und gegen die Bösen, die immer Kinder umbringen und Mamas hauen und die immer so böse lachen, die Bösen. Gegen die kämpfen die Soldaten und sie gewinnen immer, weil sie eine Uniform haben. Kevin hat auch so eine Uniform und wenn Mama weint, zieht er sie manchmal an, aber den Knopf von der Hose, den kriegt er nicht zu und Mamas Freund kann ihm den nicht zumachen, weil er nicht sein Papa ist, er kann aber ganz laut die Tür zumachen.

Mama hat Kevin versprochen, dass sie im Sommer in ein wunderschönes Land fahren, wo es Löwen gibt und lustige Affen und wo die Schokolade wächst. Da wären alle Menschen glücklich und keine Wohnung hat eine Tür, weil es so warm ist, und es ist auch nie dreckig da, weil der Dreck immer vom Wind fortgeweht wird, in der Nacht. Mama hat gesagt, für diese Reise brauche sie viel Geld, weil sie das sparen müsse, auf einer Sparbank. Kevin hat auch schon sein ganzes Sparschwein mit dazugespart. Wo das Geld von Oma drin war, die nicht mehr kommt, weil sie weggefahren ist in einen langen Urlaub. Sie kommt erst wieder, wenn Kevin groß ist und das verstehen kann. Dann bringt sie ihm auch was mit. Am meisten würde sich Kevin über ein Gewehr freuen, ein richtiges Gewehr, so eines, wie sie im Fernsehen immer haben, dann könnte er auch Mama helfen, gegen die bösen Tiere, die nur Mama sehen kann, aber vor denen sie schreckliche Angst hat, aber Kevin hat keine Angst, außer davor, dass Mama weggeht, aber sie geht nicht weg. Das hat sie ihm versprochen und neulich hat Mamas Freund sogar gelächelt und ihm was geschenkt. Einen Flitzer. Der fährt durch die ganze Wohnung und wenn man ihn rückwärts fährt, dann fährt er dann vorwärts, ganz schnell, und da hat Mama richtig in die Hände geklatscht, so schnell ist der gefahren und richtig gelacht hat sie auch. Und dann hat Kevin ihnen noch hinterhergewinkt aus dem Fenster, als sie dann weggegangen sind. Aber sie kommen bald wieder, haben sie gesagt. Schon morgen, haben sie gesagt.

So. Das muss jetzt bloß noch an den Verlag geschickt werden, dann kommen sicher ein paar bunte Bilder hinzu. Gesetzt, gedruckt, fertig. Ein Kinderbuch. Da dürfte ich dann Ruhe haben, erst mal, vor der Gewerkschaft. Zwei, drei Jahre Ruhe. Mal sehen, was dann kommt? Womit ich dann beweise, dass ich ein Schriftsteller bin. Historischer Roman? Haikku, Fabel, Dramolett? Ich lass es auf mich zukommen.