Andreas Scheffler: Im Dorf angekommen

31. Oktober 2008, Reformationstag, 23 Uhr 30. Mir fällt der Besen aus der Hand, Sabine wirft Handfeger und Dreckschüppe in eine Ecke. Schnell den letzten Müll in die Tonnen auf dem Hof gestopft, im Schutz der Dunkelheit einen Computermonitor und zwei Lautsprecherboxen in den Hauseingang gestellt, im Schein der Taschenlampe die letzten Lampen abgeschraubt, auf der Türschwelle zwei, drei Tränen vergossen, den fast leeren Bierkasten geschnappt, wegen innerer Aufgewühltheit und zu viel Wodka ein wenig Flüssigkeit in den Rinnstein erbrochen und dann ins Auto und weg. Sabine fährt. Heute vor 491 Jahren hat Luther in Wittenberg auf einigen Blättern Papier wichtige Sätze ans Kirchentor genagelt. Das hat letzten Endes den 30-jährigen Krieg ausgelöst. Ich habe einen gelben Klebezettel mit den Worten »Die Schlüssel habe ich beim Nachbarn gegenüber hinterlegt« an die Tür gepappt. Was das auslöst, ist noch nicht raus.

Reformationstag. Ja, auf Sabine und mich kommen Reformen zu. Erstmal von der Stadt ins Dorf. Was dann kommt? – Mal sehen.

Auf dem Weg zur Autobahn durch Mitte, Kreuzberg, Neukölln Verkehrschaos. Freitags um Mitternacht. Im CD-Spieler das Electric Light Orchestra. Stepping out. »I’m gonna be somebody. Ouhh, I’m steppin’ out.« Eine Stunde später im Haus im Dorf noch ein Glas Sekt, dann fallen wir zwischen Umzugskartons auf je eine Matratze und schlafen wie Steine, bis uns seltsame Gesänge wecken. »Märkische Heide, märkischer Sand, sind des Märkers Freude, sind sein Heimatland...« Das kann nicht in einen Traum geraten sein. Das ist Realität. »Steige hoch, du roter Adler, hoch über Sumpf und Sand, hoch über dunkle Kiefernwälder! Heil dir, mein Brandenburger Land!« Ich winde mich hoch, nehme einen Schluck Wasser gegen das Sodbrennen und wanke zum Fenster. Auf der Straße vor unserem Haus steht offenbar der hiesige Männergesangsverein. Sechs Herren in den Sechzigern in dunklen Klamotten in einer Reihe, einer steht davor und dirigiert. »Blaue Seen, Wiesen und Moor. Liebliche Täler, schwankendes Rohr. Steige hoch, du roter Adler...« Hastig ziehe ich mich an, fahre mir durch die Haare und scheuche Sabine auf. Es ist Punkt zehn Uhr morgens, wie ich auf dem Wecker sehe.

»Sabine, wo ist der Schnaps? Ich glaube, ich muss jetzt mit allen einen Schnaps trinken.« Sabine zeigt auf einen Wust von Leinenbeuteln. Ich wühle herum und finde schließlich eine Flasche Becherovka. »Knorrige Kiefern leuchten im Abendrot. Sah‘n wohl frohe Zeiten, sah‘n auch märkische Not«, schallt es von draußen. Ungewaschen, aber bekleidet gehe ich durch den Flur zur Haustür und trete dem Gesangsverein gegenüber. »Steige hoch, du roter Adler, hoch über Sumpf und Sand...« Der Dirigent sieht mich, macht eine professionelle Handbewegung, der Chor dehnt die letzte Silbe der Strophe bis zur Atemlosigkeit, klingt aus und alle kommen auf mich zu. Der Chorleiter wölbt die Brust und spricht: »Herr Scheffler, unser Männergesangsverein begrüßt Sie herzlich als unseren neuen Mitbürger. Mögen wir in Freundschaft zusammen leben, singen und arbeiten.« Sein Blick fällt auf die Flasche Becherovka. »Und trinken.« Ich reiche ihm die Buddel, da fällt mir ein, dass ich gar keine Schnapsgläser dabei habe, doch er schnappt mir schon den Kräuter aus der Hand, nimmt einen Hieb und gibt die Flasche an den Nächsten weiter. Als Letzter muss ich trinken und spüre schon wieder ein übles Sodbrennen. »Nochmals herzlich Willkommen bei uns auf’m Dorf. Und wenn Sie Freude am Gesang haben, würden wir Sie gern in unserer Runde begrüßen.«

Er nimmt mir die Flasche aus der Hand und diese macht die genannte Runde noch einmal. Gerade kommt Sabine dazu, da tritt der Verein den Heimweg an. »Hie Brandenburg allwege, sei unser Losungswort, dem Heimatland die Treue, in allen Zeiten fort«, klingt noch nach. – Mensch, Gustav Büchsenschütz, was hast du da bloß gedichtet? Und das in den wilden Zwanzigern!

Sabine macht sich einen Kaffee. Ich lege mich in meinen Klamotten nochmal hin. Etwa eine halbe Stunde später klopft es an der Tür. Ich werde aus dem Halbschlaf geholt. »Der Bürgermeister ist da«, sagt Sabine und schüttelt mich. Ich springe auf und denke »Mist, der Becherovka ist alle.« Aber irgendwo müsste ich noch eine Flasche Weinbrand haben. Ich finde einen Osborne und sogar ein paar Schnapsgläser. Der Bürgermeister nimmt auf einem Umzugskarton Platz und ist hocherfreut. Wir stoßen an (ich zusätzlich auf) und er versucht mir zu erklären, dass man hier auf dem Dorf auch vieles so unter sich klären könne, was immer er auch damit meint. Ich sage, das sei ganz in meinem Sinne, und nach dem dritten Brandy bietet er uns das Du an. Sabine muss auch einen mittrinken, kann aber durch eine geschickte Kopfbewegung einen Kuss auf den Mund verhindern. Als er geht, begrüßt er den evangelischen Pastor der Gemeinde, der zusammen mit dem SPD-Ortvereinsvorsitzenden vor der Haustür steht. Mittlerweile ist es zwölf. Sabine macht eine Flasche Wein auf. Der Pastor sackt in einen halbvollen Umzugskarton mit Büchern ein und kann nur mit Mühe heraus gehoben werden. Der Genosse von der SPD greift sich den einzigen freien Sessel, holt eine Flasche Goldbrand aus seinem Mantel hervor und schickt Sabine zum Gläsersuchen. Sowohl der Kleriker als auch der Parteigenosse versuchen, mich zur Mitarbeit in ihren Vereinen zu bewegen. Ich sage, ich habe erstmal Umzug. Alle nicken verständnisvoll und wir stoßen an. Es klingelt. Ein Vertreter der Volkssolidarität steht vor der Tür. Sabine bitte ihn in die Runde. Wir stoßen an.

Langsam werde ich sentimental. Nie bin ich in Berlin so freundlich begrüßt worden. Nie hat man sich so um mich bemüht. Wir stoßen an. Der Revierförster klingelt. Wir stoßen an. Der Bezirksschornsteinfeger klopft. Wir stoßen an. Eine Abordnung der Landfrauen steht vor der Tür. Sabine macht einen Tee. Wir anderen stoßen an. Ich lasse die Haustür einfach auf. Nach kurzer Zeit stehen der Postbote und die Freiwillige Feuerwehr im Wohnzimmer. Ich falle in einen Getränkekarton und schlafe auf der Stelle ein. Die Anwesenden, so sagt man mir später, hätten sich davon nicht beirren lassen. – So ist das Leben auf dem Dorf. Ruhig, gelassen, ohne Stress, geruhsam und gesund. Steige hoch, du roter Adler, hoch über Sumpf und Sand. Prost.