Jürgen Witte: Moralischer Ausnahmezustand

»Und Raucher ist er auch noch? Wie konntest du da nur Raucher ankreuzen?« Birgit ist entsetzt. Gerade hat sie erstmals mit Albert Wilhelm Kompatzki aus Mariendorf telefoniert. Und das Telefonat ist gar nicht gut gelaufen. Albert Wilhelm Kompatzki, 58, Frührentner, schwerbeschädigt, ist uns vom Arbeiter Samariter Bund vermittelt worden. Er soll dieses Jahr unser Weihnachtsopa werden. Ein einsamer Witwer, der eine nette Familie sucht, bei der er Heiligabend verbringen darf. Weil er selber keine nette Familie mehr hat. Wir haben beschlossen, auch mal solch eine nette Familie zu sein. Erstmals. Wir wollen mal sehen, ob wir das überhaupt können.

Also eigentlich hat Birgit das, dass wir eine nette Familie sein sollen, irgendwann so beschlossen. Weiß Gott warum! Vielleicht weil sie dieses Jahr den Zahlschein aus dem Bettelbrief der SOS-Kinderdörfer verbummelt hat und deshalb plötzlich Gewissensbisse bekam. Um Weihnachten herum herrscht bei manchen Menschen öfter mal sowas wie ein moralischer Ausnahmezustand. Da wollen sie dann plötzlich auf Biegen und Brechen was Gutes tun. Wegen Jesus, und weil das ja nicht alles falsch war, was der so gesagt hat. Die einen schleppen eine untergegangene DDR mit sich rum, andere einen nie ganz aufgearbeiteten Religions- und Konfirmanden-Unterricht.

Also zwanzig oder vierzig Euro Spende, die wäre mir ein Heiligabend ohne spontanen Rentnerbesuch aus Mariendorf schon wert gewesen, aber ich habe nicht laut genug protestiert. Im Gegenteil, das schien mir an dem Abend – da hatte ich wohl schon was getrunken, oder was war da noch gewesen? – das mit dem Rentnerbesuch unterm Weihnachtsbaum schien tatsächlich eine ziemlich lustige Idee zu sein, »mal was ganz anderes!« und ich hatte sogar kooperiert. Und so ist es passiert. Ich hatte den Fragebogen eigenhändig ausgefüllt und das Kästchen bei ›Raucher‹ angekreuzt.

Hätte ich ›Nichtraucher‹ angekreuzt, man hätte uns womöglich so ein asthmathisches, lungenkrankes Wrack vermittelt und dann hätte ich hier einen ganzen schönen langen Abend nicht rauchen dürfen. Bei mir zu Hause. Zum forcierten Nichtrauchen kann ich nun wirklich auch in die Kneipe gehen.

Außerdem hatte ich bei ›Geschlecht‹ nicht ›weiblich‹ und auch nicht ›männlich‹ angekreuzt, ich wollte da wirklich niemanden diskriminieren, also machte ich mein Kreuzchen bei ›egal‹.

»Dir ist doch klar, dass die uns dann einen Mann schicken«, sagte Birgit, »kein Mensch will einen fremden, ungepflegten, dicken, alten Mann zu Weihnachten im Haus haben. Alte Frauen sind viel pflegeleichter.«

»Aber dicke alte Männer sind jedenfalls besser, wenn es darum geht, den Weihnachtsmann überzeugend zu spielen«, antwortet ich und brummelte dazu ein kehliges: »HoHoHo!« Ich muss an dem Abend wirklich völlig weggetreten gewesen sein.

»Nils ist jetzt 18! Soll er ausgerechnet dieses Jahr erstmals einem leibhaftigen Weihnachtsmann-Schauspieler gegenübergestellt werden? Willst Du ihn etwa auch noch zwingen, dann ein Gedicht aufzusagen? Der Junge lacht uns doch aus!«

Herr Kompatzki hat auf Birgit beim Telefonat einen ziemlich angetrunkenen Eindruck gemacht. »Regelrecht vollgelallt hat der mich! Er hat mich »Gnädige Frau« genannt, und darauf bestanden, bei dieser Anrede zu bleiben, bis wir dann zusammen Brüderschaft getrunken hätten. Außerdem entschuldigte er sich noch ausdrücklich dafür, dass er etwas angeschickert sei. Aber das wäre eben nicht so gut, dass ich ihn ausgerechnet heute Abend angerufen hätte, weil Mittwoch, das wäre absolut gesehen schon immer sein Kümmeltag. Er habe da nämlich seine strikten Regeln, was sowas angeht.«

»Fällt Heiligabend dies Jahr nicht auch auf Mittwoch?«

»Nein, diesmal ist Donnerstag.«

»Weiß Gott, was ein Albert Wilhelm Kompatzki, 58, Frührentner, schwerbeschädigt, aus Mariendorf Donnerstags für Getränke zu sich nimmt. Bier mit Korn vielleicht oder womöglich Futschi bis zum Abwinken.«

»Dann«, sagt Birgit, »hat er mich nach meiner Konfektionsgröße gefragt. Ich antwortete gleich, er müsse uns ganz bestimmt keine Geschenke machen, das wäre nicht nötig, und schon gar keine Anziehsachen. Womöglich Kleider aus dem Schrank von seiner verstorbenen Frau? Ich musste mich regelrecht schütteln bei dem Gedanken. Da sagte der Kerl doch zu mir, da hätte ich ihn wohl missverstanden: keine Geschenke, keinesfalls, absolut, das sei auch völlig in seinem Sinne, er würde sich immer selber was Nettes mitbringen für die Bescherung. Die Frage nach der Konfektionsgröße wäre doch nur, damit er sich schon mal eine bessere Vorstellung von der Dame des Hauses machen könne.«

Illustration: Josh Baumann

»Ruf ihn gleich nochmal an, wahrscheinlich fragt er dich dann nach deinem Brustumfang und deiner Körbchengröße«, witzelte ich. Birgit fand die Idee nicht so sonderlich lustig.

»Tu ich nicht! Ich rufe morgen früh beim Arbeiter Samariter Bund an. Wir nehmen den Kompazki nicht, wir wollen einen echten Opa. Einen, der mindestens 70 Jahre alt ist, Nichtraucher, Nichttrinker, und ganz lieb muss er sein. Basta!«

»Je oller, je doller«, sagte ich. »Frag auch gleich nach, ob sie einen ohne Blasenschwäche im Angebot haben. Verlange eine Garantie!«

»Womöglich hätten sie auch schwule Opas in Angebot«, murmelte sie.

»Nichtsänger! Vergiss nicht, auch gleich einen Nichtsänger zu bestellen. Sonst müssen wir dann tatsächlich als nette Familie irgendwelche Weihnachtslieder zusammen singen.«

Da versetzte Birgit mir den Todesstoß – sie sagte nämlich: »Natürlich werden wir diesen Heiligabend endlich mal zusammen singen. Ich wollte schon immer mal wieder richtig singen. Deshalb machen wir das doch alles!«

Jürgen Witte

Jürgen Witte (*1956 in Karlsruhe). 1979 Flucht nach Berlin (West). Vortragender Autor beim ›Frühschoppen‹ und in der ›Reformbühne‹. Salbader-Senioren-Redakteur, lebt in Steglitz und hat nur das alte Web 1.0.