Anselm Neft: Der Selbststreichler

Jeden Tag fechten Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln unbemerkt heldenhafte Kämpfe mit sich selbst aus: Man bekommt ja gar nicht mit, wie viele der Versuchung widerstehen plötzlich loszubrüllen oder laut in ihr Handy zu sagen: Ich bin jetzt in Wuppertal. Hoch ist die Dunkelziffer derer, die sich trotz großem Appetit einen Döner in der Bahn versagen, auch Bier und Eiersalat aus Tupperdosen. Wer kennt die beim Namen, die dem Drang widerstehen, sich alle paar Sekunden zu räuspern, sich in den Schritt zu fassen oder nachzuprüfen, ob schon wieder neue Popelbröckchen in den Nasenlöchern nachgewachsen sind? Und wer könnte die Zahl derer nennen, die von Augenblick zu Augenblick gegen den mächtigen Wunsch ankämpfen, ihrem Gegenüber ins volle Haar zu fassen, seine Wange zu streicheln oder ihm mit einem Faustschlag die Nase zu brechen? Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich bin einer jener unerkannten Helden. Ich weiß nicht, wann ich mir zum ersten Mal ein latentes Tourette-Syndrom attestiert habe, aber seitdem geht es mir besser. Ich habe einen netten Charakter und bin eben krank. Krank, aber nett. Je mehr Leute um mich herum allerdings ihren Marotten nachgeben, um so mehr drängt mein latentes Tourette zum Ausbruch. Ich will auch meine Nase hochziehen, Schmatzgeräusche machen. Ich will den Sound aus Walkmans imitieren, die Schuss- und Explosionsgeräusche aus Laptopfilmen mit dem Mund kopieren, brüllende Babys parodieren, Handy-Klingeltöne lauthals mitsingen – aber ich widerstehe mit eisernem Willen.

Es war auf einer Fahrt von Köln nach Berlin, als sich ein alter Mann im blauen Pullunder neben mich setzte. Er roch süß und pappig, wie eine frisch gepackte MacDonalds-Tüte. Er begann sofort, sich selbst zu streicheln. Mit dem Daumen der rechten Hand den Handrücken der linken. Ich war mir sicher, es mit einem Selbststreichler zu tun zu haben.

Das Streicheln wurde kreisförmig ausgeführt, wobei die feinnervige Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger besondere Aufmerksamkeit erfuhr. Ich hätte mich nicht beklommener gefühlt, wenn der Mann, seinen Penis hervorgeholt und versonnen gewichst hätte. Mir wäre nicht flauer gewesen, wenn der Mann statt seiner Hand mein zehn Zentimeter entferntes Knie gestreichelt hätte. Genau genommen wären mir der gewichste Penis und das gestreichelte Knie lieber gewesen. Dann nämlich hätte ich mit Fug und Recht sagen können: Hören Sie damit auf. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob es höflich war,

einem alten Mann zu sagen: Bitte, hören Sie auf, sich selbst zu streicheln. Und ehrlicherweise hinzuzufügen: Sonst muss ich auch damit anfangen. Trotzdem war das der einzige Satz, den ich überhaupt noch denken konnte. Der Speisewagen, in dem sie bewusstseinstrübendes Hefeweizen ausschenkten, schien mir sehr weit entfernt.

Ich hätte mich jedoch nicht als stillen Helden des Personenverkehrs bezeichnet, wenn ich in solchen Situationen bereits die Fassung verlöre. Vielmehr steuerte ich den einsetzenden Zuckungen meiner Hand mit mühsam antrainierten Überlegungen entgegen: Du bist nicht er. Er ist nicht du. Dein Körper gehört nur dir. Klar umrissen und unversehrt. Verdammte ScheißeHamstersauschweinfötzgeleck-EdvonSchleck schleck vom Ed. Bleib ruhig und konzentriere dich auf dich und ...haltsmaulduitzibitzikibitzstibitz.Dolomiti Minimilk Happen...deinen Atem. Seine Hand ist nicht deine Hand. LutschmichCowboy! Sei stolz, dass du keinem deiner Tics nachgibst. Dieser alte Mann ist nicht so stark – ARSCHLOCHHUNDGEBURT – wie du. All diese alten Selbststreichler sind nicht genug gestreichelt worden. Siehst du – Freakscheiße Flutschfinger Lutschfinger Rutscht Finger in Brauner Bär – jetzt bist du schon bei konstruktiven Gedanken. Jeder sollte staatlich verpflichtet sein, einmal in der Woche einen alten Menschen richtig durchzukuscheln. Diese dicken alten Frauen, die aussehen wie in Teig eingebacken, und diese hölzern schlackernden alten Männer, denen trübe Jahrzehnte die Bewegungen eckig gemacht haben. Die müssen alle durchgestreichelt werden. Meinen Vater, den alten Soldaten, den hätte ich auch mal streicheln sollen. Der ist immer eckiger geworden. So eckig, dass ich in seiner Gegenwart selbst immer ganz eckig wurde. Rundstreicheln hätte man den müssen. Papapillemannnazioberst. Ob hinter jedem Tic ein Schuldgefühl lauert?

In diesem Moment muss mein eiserner Wille kurz die Deckung vernachlässigt haben und ich griff ohne Schuldgefühl nach der altersfleckigen Hand des Mannes im blauen Pullunder. Das Streicheln erstarb und die Spannung wich mit einem kleinen Seufzer aus mir heraus. Die Hand des Alten lag gut und warm in der meinen. Der Mann sah mich nicht an, ich sah den Mann nicht an, aber unsere Hände passten ineinander, wie von einem Bildhauer zusammengefügt.

Kurz nach Hannover räusperte sich der Mann. »Entschuldigen Sie«, sagte er mit brüchiger Stimme, »ich müsste einmal austreten.«

»Natürlich«, sagte ich gönnerhaft und ließ seine Hand fahren. »Wir Freaks müssen doch zusammenhalten. Nogger dir einen!«

Der Alte stand auf und ging und kam nicht mehr zurück.