Spider: Erikas Mondfahrt

Erst haben sie uns das Rauchen verboten, die Roten und die Schwulen, und jetzt verbieten sie uns das Fliegen. Da helfen auch keine Volksentscheide. Haben sie einfach Tempelhof dicht gemacht.« Ralf fluchte in sein Feierabendbier und zog gereizt an seiner Stuyvesant.

»Aber du rauchst doch noch«, sagte Erika. Ralf blickte wie hypnotisiert auf seine Zigarette.

»Stimmt«, sagte er, »es ist verboten, nicht wahr? Und trotzdem rauche ich, weil es Dir egal ist, Erika. Und weil das Ordnungsamt lieber Radfahrer von den Bürgersteigen scheucht, als dass sie das Rauchverbot durchsetzen.« Erika polierte hinterm Tresen Gläser. »Willste noch‘n Kräuter?«

An der Wand neben der Tür hing ein Aufruf zu einer Demonstration. Ob in Kneipen geraucht würde oder nicht, sollten die Wirte entscheiden dürfen, forderten die Organisatoren.

Ralf war Pilot. Er flog kleinere Maschinen. Meist für Geschäftsleute. Er liebte seinen Beruf. Er liebte Tempelhof, liebte Erikas kleine Kneipe in der Dudenstraße. Und es brach ihm fast das Herz, dass er hier nie wieder landen sollte. Ihm, dem Ur-Westberliner. Jetzt starrte er wie hypnotisiert auf seine Zigarette. »Erika«, sagte er behäbig, »ich habe eine Idee!«

Ralf war der erste, der die Schließung des Flughafens Tempelhof missachtete. Er war auch einer der ersten gewesen, der das Rauchverbot in Kneipen missachtet hatte, aber wer tat das nicht? Als ob nichts gewesen sei, landete und startete Ralf in Tempelhof. Die Polizei erklärte sich für nicht zuständig. Das Ordnungsamt hatte nicht genügend Personal, um den Flugbetrieb zu unterbinden. Ein halbes Jahr lang, so kündigten sie an, würden sie nicht kontrollieren, ob in Tempelhof geflogen wurde.

Das Abfertigungsgebäude war vernagelt, aber Ralf schnitt den Zaun auf und montierte ein Gartentürchen in die Lücke. In der Nähe der Tür lungerte ein Vietnamese herum, der auf Anfrage Kanister voller Flugbenzin aus einem Gebüsch holte, um die Flugzeuge zu betanken. Bald landeten und starteten immer mehr Piloten illegal in Tempelhof. In einem alten Doppelstockbus wurde von arbeitslosen Fluglotsen ein behelfsmäßiger Tower eingerichtet. Für die Lokalpresse waren sie Helden. Gegner und Befürworter des Flugbetriebs schrieben wütende Leserbriefe.

Als es kühler wurde, stellte Ralf Propanheizpilze vor das Türchen im Zaun. Dort bildete sich auch ein Taxistand. Ein Imbiss eröffnete. Am Zaun hingen Aufrufe für eine Demonstration. Ob in Tempelhof gelandet würde, oder in Schönefeld, das sollten die Piloten entscheiden dürfen, forderten die Organisatoren.

Hatten zuerst nur Geschäftsleute und Sportflieger den illegalen Flughafen zu schätzen gewusst, so entwickelte er sich bald zu einem Geheimtipp unter Touristen. Der Lonely Planet empfahl ihn zur Anreise ins verruchte Berlin mit seinen verruchten Clubs und Bars. Bald darauf landeten Charterflieger voller angelsächsischer Pubcrawler. Eine Invasion in die ruhigen Alkoholikerwohnzimmer des verschlafenen Bezirks Tempelhof. Mittelgroße Gruppen besoffener Amis aus Skandinavien bescherten Erika Umsatz, Hektik und schmutzige Toiletten. Ralf fand immer öfter keinen Sitzplatz mehr, wenn er wie gewohnt sein Feierabendbier trinken wollte. Wie ein Fremdling stand er an der Wand neben der Tür. »Noch einen Kräuter, Erika!«

»Ist alle, Ralf«, Erika zuckte erschöpft mit den Schultern, »haben die Amis weggetrunken.«

Die Touristen tranken eilig aus und spülten aus der Kneipe, um der nächsten Woge besoffener Amis Platz zu machen, diesmal welche aus Spanien. Ralf fühlte sich alt. Und müde. Und alt. »Komm Erika!«

Sie trotteten über das Rollfeld. Eine Maschine wartete vollgetankt. Ralf nahm im Pilotensessel Platz. Er half Erika, sich anzuschnallen. Sie war noch nie geflogen. »Du darfst rauchen«, sagte er, gab ihr Feuer und steckte sich selber auch eine an. Dann startete er das Triebwerk. Und das kleine Flugzeug schoss über die Startbahn, zog in den Nachthimmel hinauf und durchstieß schließlich die Wolkendecke. Berlin unter ihnen war nur noch eine vage Erinnerung. Immer höher ging es hinauf. Sonne, Mond und Sterne. Sie umkurvten den gelb leuchtenden Erdtrabanten und landeten schließlich wohlbehalten und weich hinterm Mond, wo alles noch so war, wie früher. Dort lebten sie glücklich und zufrieden. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.