Heiko Werning: Im Schatten der Gummibäume

Finanzamt Berlin-Wedding, Osloer Straße. Ich klopfe an die Tür von Zimmer 632. Eine robuste Frau, so um die 50, sitzt hinter ihrem Schreibtisch. Das Büro macht einen eigenartig beklemmenden Eindruck. Es sieht original nach Amtsstube aus, und zwar genau so, wie ich es aus meiner Kindheit in Münster in Erinnerung habe und wie man es manchmal noch in den Tatort-Wiederholungen der 70er-Jahre sieht, einschließlich Gummibaum und diesen merkwürdigen hellbraunen Resopal-Holzschränken. Die Frau selbst passt gut hinein, mit ihrer stämmigen Statur, der dunkelblauen Dauerwelle und einer Brille, die meine Mutter so um 1980 auch trug.

»Ja bitte?«

»Werning, mein Name.«

»Ach so. Dann sind Sie für W. Die Kollegin ist heute nicht da, die hat Geburtstag. Ich bin für V. Aber kein Problem, geben Sie‘s einfach mir.«

»Gerne. Also, ich wollte meine Steuererklärungen abgeben.« Ich lege ihr die Papierstapel auf den Schreibtisch, sie guckt mich irritiert an.

»Was ist das denn?«

»Das sind meine Steuererklärungen. Einkommens- und Umsatzsteuer. 2001 bis 2006.«

»Das ist ... was?«

»Meine Steuererklärungen, Einkommens...«

»Ja, ich hab Sie schon verstanden. Und wieso kommen Sie damit jetzt? Ich meine, das ist doch schon lange vorbei!«

»Ja, das dachte ich ja auch. Aber die Herren von der Steuerfahndung haben gemeint, ich sollte die doch besser mal machen.«

Sie nimmt sich eine der Akten und blättert kurz durch. Sie wird ganz blass.

»Herr Werning?«

»Ja.«

»Herr Werning? Ich fass es nicht. Das hier ist – was?«

»Na ja, die Einkommens- und Umsatzsteuererklärungen für 2001 bis 2006. 2000 könnte ich erst mal weglassen, hat der Herr von der Steuerfahndung gemeint.«

»Herr Werning! Das ist ja – also, das kann ich gar nicht glauben. Das ist doch – Herr Werning, das ist doch schon lange vorbei. Wieso kommen Sie da denn jetzt erst mit?«

»Na ja, ich hatte es halt vergessen, damals, also 2001 ...«

»Herr Werning! 2001! Das ist sieben Jahre her! Ich glaub‘s ja nicht. Herr Werning? Vergessen? Sie haben das sieben Jahre vergessen? Also, ich hab schon viel erlebt hier, das können Sie mir glauben, aber den Tag, den werd ich mir merken. Herr Werning! Sieben Jahre! Mensch, in der Zeit sind Geschäfte gegründet und wieder eingestellt worden, in der Zeit ist diese bescheuerte Straßenbahn da unten gebaut und schon wieder halb wegrationalisiert worden, in der Zeit bin ich zweimal Oma geworden, Herr Werning! In der Zeit sind Kinder gezeugt und geboren und eingeschult worden! Uund Sie haben das mal eben vergessen?«

Au weia. Das wird hart.

»Na ja, ich meine, ich dachte, Sie hätten das vielleicht mal angemahnt oder so, aber ...«

»Herr Werning! Wir sind doch nicht dafür zuständig, Ihnen hinterherzulaufen! Herr Werning, Sie müssen zu uns kommen, verstehen Sie? Sie sind der, der hier Steuererklärungen abzugeben hat! Verstehen Sie? Verpflichtet! Sie sind verpflichtet, Steuererklärungen abzugeben! Was haben Sie denn erwartet? Dass mal gelegentlich einer von uns mit Apfelstrudel bei Ihnen vorbeikommt und fragt, ob Sie eventuell vielleicht mal in absehbarer Zeit die Muße dafür finden könnten, freundlicherweise mal Ihre Steuererklärung abzugeben? Dass wir Ihnen persönliche Einladungen schicken, auf kleinen Kärtchen, mit Vögelchen drauf? Herr Werning! Das hier ist ein Finanzamt! Wir sind hier kein Wohlfühlclub für sensible Künsterlerseelchen, wir wollen ausgefüllte Formulare sehen, Herr Werning! Und wir haben Sie da nicht groß zu bitten, die haben Sie uns gefälligst vorbeizubringen. Und zwar pünktlich! Bis Ende Mai!«

»Ja, aber ... äh, ist doch noch gar nicht Mai ...«

»HERR WERNING! Machen Sie keine blöden Witze jetzt! Ich fass es nicht. Na, da wird sich die Kollegin ja freuen morgen. Und ich muss es ihr geben? Herr Werning, Sie machen sich ja keine Vorstellung! Das können Sie gar nicht wieder gut machen bei mir, was glauben Sie, was die mir erzählen wird? Na, das ist ja ein tolles Geburtstagsgeschenk, da meldet die sich doch gleich wieder zum Feiern ab, wenn die das sieht, Herr Werning! Haben Sie ein Glück, dass die heute nicht da ist, haben Sie ein Glück, dass ich da bin!«

»Äh... ja, ein großes Glück ...«

»Herr Werning! Sie machen sich ja keine Vorstellung! Meine Güte, Sie haben ja keine Ahnung. Was haben Sie für ein Glück, dass die Kollegin heute Geburtstag hat, und ich darf ihr das morgen geben – also, wenn Sie mein Buchstabe wären, den Namen, den würd ich mir merken, den würd ich nie wieder vergessen, da könnten Sie aber drauf … ach was? Den merk ich mir ja schon so, obwohl Sie W sind, Herr Werning! Also, so was hab ich ja wirklich ... und glauben Sie mir, wir erleben hier so einiges .... aber so was? Herr Werning!«

»Ähm, ja, tut mir ja auch Leid, aber ...«

Illustration: Elke Pollack

»Das tut Ihnen Leid? Das sollte es aber auch, Herr Werning. Das sollte Ihnen wirklich Leid tun. Verdammt Leid sollte Ihnen das tun. Wenn Sie mit V wären, Herr Werning, wenn Sie bei mir wären! Sie können aber so was von Glück sagen, dass Sie nicht bei mir sind. Ich hätte Sie schon längst blutig geschätzt! Blutig geschätzt hätte ich Sie, Herr Werning, da hätten Sie nichts mehr vergessen, Herr Werning, nie mehr, da hätten Sie bezahlt, bezahlt, bezahlt ...«

»Äh ... na ja, aber so eine Schätzung, ich mein’ halt, dann wäre es ja auch gar nicht so weit gekommen ...«

»Herr Werning! Da meinen Sie halt? Sie haben die verdammte Pflicht, Ihre Steuererklärung abzugeben, wir sind doch keine Babysitter, Herr Werning! Sie sind der Steuerzahler und wir das Finanzamt! Verstehen Sie, wir sind das Finanzamt! Und da haben Sie gefälligst von sich aus zu kommen und Ihre Steuererklärung abzugeben ...«

»... aber es kommt doch sowieso nichts dabei raus, ich bin doch weit unterm Freibetrag ...«

»Herr Werning! Das berechnen ja wohl nicht Sie, das berechnet ja wohl immer noch schön das Finanzamt! Das sind immer noch wir, die hier berechnen, ob Sie über oder unter dem Freibetrag sind. Da könnte ja jeder kommen mit diesem Gejammer, mit diesem ›die Kosten fressen einen ja auf, da bleibt ja eh nichts übrig‹, Herr Werning! Was glauben Sie, was wir hier schon alles gehört haben? Also, wir berechnen, und Sie geben ab, und zwar im Mai des Folgejahres! Wenn Sie mit V wären, Herr Werning, blutig hätte ich Sie geschätzt, blutig! Und ich darf das jetzt morgen meiner Kollegin auf den Tisch legen! Herrjeh, Herr Werning! Ich hab ja schon manches erlebt ...«

So ging das die nächsten gut 70 Minuten weiter: »Herr Werning ... haben Sie mich verstanden? ... Herr Werning! ... Ich glaub’s ja nicht! ... Herr Werning ...«

Plötzlich piepste eine Uhr, es war 16 Uhr.

»Oh. Feierabend. Na gut, dann geb ich das morgen mal der Kollegin. Das nächste Mal aber pünktlich, verstanden?«