Bov Bjerg: Schrei im Hinterland

Auf der anderen Seite der Bundesstraße putzte einer das Fenster. Der musste neu eingezogen sein. Oder die Wohnungen sollten umgewandelt werden in Eigentumswohnungen und um den Preis hochzutreiben, ließ man jetzt die Fenster putzen.

Das ganze Haus gab uns Rätsel auf. Die Fenster waren mit Provisorien verhängt, mit Wellpappen, bunten Tüchern, manche auch mit diesen silberfarbenen Kunststoff-Jalousien, die aussehen sollten, als seien sie aus Aluminium. Hinter einem der Fenster hing ein helles Laken. Abends konnten wir darauf etwas flimmern sehen. Nachrichten oder ein Film, das war selten zu erkennen.

Die Bundesstraße durchtrennte den Bezirk wie früher die Mauer die ganze Stadt. Freies Schussfeld. Wenn es hier so wenig Tote gab, dann nur deshalb, weil kaum je einer versuchte, auf die andere Seite zu kommen.

Ein Altneubau. Die Wohnungen schienen klein zu sein, sehr klein. Manchmal stand ein nackter Mann im offenen Fenster. Ein Männerwohnheim?

Ich suchte im Netz. Auf einem Satellitenfoto sah ich, im Hof standen zweieinhalb schüttere Bäume. Eine Baufirma belegte ihre Kompetenz in Sachen Gebäudehüllflächensanierung damit, dass sie an diesem Haus im Jahre 1996 die absturzgefährdeten Laubengangbrüstungen abgerissen und Laubengangbodenundichtigkeiten ausgebessert habe (DM 0,45 Mio.). Für eine der Wohnungen wurde ein Mieter gesucht. 27 Quadratmeter, 270 Euro warm. Bezahlbare Wohnungen gab es nur noch direkt an den Hauptverkehrsstraßen. Drüben an der Bundesstraße 2, an der Bundesstraße 109, oder eben hier, an der B96a, auf diesem Abschnitt gelegentlich auch ›Schönhauser Allee‹ genannt. Im Hinterland stand eine Kirche. Hinter der Kirche führte ein Sträßchen herum. Es umkurvte einen kleinen, ruhigen Platz mit Sandkasten, Schaukel und Rutsche. Sanierte, schöne Häuser. Am Sträßchenrand waren schwarz glänzende Autos geparkt. Ein Auto hupte. Auf dem Sträßchen stand ein kleiner Kastenwagen. Essen auf Rädern. Dahinter ein schwarzer Freizeitpanzer mit einer brünetten Dame am Lenkrad. Sie hupte noch einmal. Sie hätte zwanzig, dreißig Meter zurücksetzen und auf die freie Straße einbiegen können.

Das Fahrerfenster senkte sich, die Dame schaute heraus und hupte wieder. Jetzt stand ein anderes Auto hinter ihr. Aus der Zufahrt eines Hauses fuhr ein weiteres. Die Dame hupte. Sie stellte den Motor ab. Sie stieg aus dem Freizeitpanzer, stapfte nach vorn zum Lieferwagen und schaute durch das Fahrerfenster ins Innere. Sie betrachtete die Hecktür des Kastenwagens. Sie kletterte zurück in ihr Auto.

Endlich trat aus einem Hauseingang eine andere Frau. Kittelschürze, und in den Händen ein leeres Tablett. Die Brünette rief aus dem Fenster, die andere Frau solle endlich weiterfahren. Die öffnete die Hecktür des Kastenwagens. Sie war älter als die Dame. Wesentlich älter. Graues, lichtes Haar. Sie öffnete die Tür eines Warmhalteschranks.

Die Brünette sprang aus dem Freizeitpanzer. Sie stand jetzt dicht bei der anderen. Die schob das Tablett in den Warmhalteschrank. Die Brünette schrie: »Sie fahren jetzt sofort hier weg!«

Die Frau mit der Kittelschürze schloss die Hecktür, provozierend sorgfältig. Sie stieg in den Lieferwagen, provozierend lahmarschig. Die Brünette kletterte in ihren Wagen. Sie sah die Hecktür sich entfernen. Durchatmen. Sie sah die Mückenflecken auf der Windschutzscheibe. Aber die zeitliche Nähe zwischen ihrem, ja gut, Befehl und dem tatsächlichen Wegfahren dieser anderen mit ihrem blöden Lieferwagen, diese zeitliche Nähe, die war ja gar nicht zu leugnen.