Uli Hannemann: Gedanken beim Anblick einer heissen Herdplatte

Ich sollte jetzt auf keinen Fall auf die heiße Herdplatte fassen. Das ist mir schon klar, das weiß doch jeder. Mir wird es nicht gut gehen, wenn ich auf die heiße Herdplatte fasse. Das wird unheimlich wehtun. Wer wüsste das besser als ich: Die Wunden vom vorigen Versuch sind noch nicht mal richtig verheilt.

Und wenn ich es doch tue, wenigstens einmal noch, ein einziges Mal? Vielleicht kann das ja auch plötzlich sehr schön sein?

Blödsinn. Spätestens, wenn ich mir den Schmerz ins Gedächtnis zurückrufe, müssten doch wirklich alle Fragen geklärt sein. Wer dann noch mal auf die heiße Herdplatte fasste, wäre ja vollkommen wahnsinnig.

Auf der anderen Seite: Hat der Wahnsinn nicht auch seine schönen Seiten? Man ist so angenehm weg. Wie ich mich manchmal sehne nach einer kleinen Auszeit, nach einem Urlaub von dieser dämlichen Vernunft. Vernunft ist Faschismus. Sie engt ein und hemmt jegliche Form von Entwicklung. Wenn ich jetzt auf die Herdplatte fasse, könnte doch zur Abwechslung irgendwas Wunderbares passieren, oder wenigstens was anderes als sonst? Wie mich die Platte anlacht: Die Ahnung eines orangefarbenen Glühens beginnt sich wie eine kleine Sonne auf ihr auszubreiten. Schön sieht das aus.

Ja, schön – schön blöd. Wann werde ich endlich aus Erfahrung klug? Ich spüre doch genau, dass ich Abstand halten muss, koste es was es wolle. Am besten die Platte ausschalten, hinten Stecker aus dem Herd und dann noch in einen anderen Raum, sicherheitshalber, damit ich nie wieder auf dumme Gedanken komme. Oder ich zahl die Stromrechnung nicht mehr, ich schlag das Ding kaputt, schlag alles kurz und klein, damit nicht das Geringste mehr dran erinnert. Oder ich bring mich um.

Obwohl – gab es nicht auch schöne Erinnerungen? Ich hab schließlich oft genug auf die Platte gefasst – die ersten Millisekunden waren eigentlich immer phantastisch. Das fühlte sich zunächst unheimlich angenehm an, dieser schmiegsame geriffelte Stahl – wenn ich also jetzt einfach nur mal ganz kurz anfasse, eine Nanomikrominizwergsekunde lang, und dann sofort wieder loslasse…?

Das geht nicht. Das weiß ich doch genau. Ich hab‘s hundertmal probiert, andere haben es probiert – es klappt einfach nicht. Sobald man erstmal auf die Platte gefasst hat, verbrennt man sich die Hand, ehe der Schmerz das Gehirn erreicht hat. Und dann steht man da und wundert sich: »Huch, wo kommt denn der Schmerz plötzlich her…?« Und hört nicht mehr auf. Man versucht es dann, indem man noch ein weiteres Mal drauffasst, weil man denkt, der eine Schmerz überlagert den anderen und das tut er ja auch – richtig weiter hilft das am Ende trotzdem nicht.

Doch hat nicht alles seinen Preis? Was gut ist, tut weh. Immer, wenn ich auf die heiße Herdplatte fasse, fühle ich, dass ich lebe. Gibt es etwas Intensiveres als auf der Borderline zu surfen? Wenn die ersten Schmerzwellen die Hand durchfluten und anschließend den ganzen Körper, schreit alles in mir, »Leben, Leben, Leben«, zusammengefasst in zwei Buchstauben: »Au!«

Die Verbände sind gerade erst ab, eine Stelle eitert noch, der Rest juckt. Und in dem Zustand soll ich schon wieder auf die Herdplatte fassen? Ich habe das Gefühl, ich werde einfach nicht schlau – weder aus Einsicht noch Erfahrung.

Aber die Platte lacht mich echt an. Bestimmt wird diesmal alles ganz anders. Viel besser, ein Erweckungserlebnis erster Güte. Okay, ja, die Hand tut noch weh – das ist schon ein Argument. Ich glaube, ich leg stattdessen besser gleich den Schwanz drauf.