Thilo Bock: Wie ich zum lustigen Tim wurde

Und dann bin ich aufgewacht und mir wollte partout mein Name nicht mehr einfallen, so angestrengt ich auch darüber nachdachte. Ich war mir sicher, am Vorabend keine bewusstseinsvernichtenden Stoffe zu mir genommen zu haben, aber ich wusste trotzdem nicht mehr, wie ich hieß. Besorgt sah ich mich im Zimmer um. Das konnte doch nicht wahr sein! Hatte ich über Nacht Alzheimer bekommen, war ich etwa älter als ich dachte? Gegenüber dem Bett hing wie seit jeher ein Spiegel. Ich richtete mich auf und betrachtete mich. Ich konnte keine Differenz zu dem Bild in meiner Erinnerung ausmachen. So sah ich eben aus. Aber wie ich hieß, wusste ich immer noch nicht. Neben dem Bett lag das Telefon, ich lege es vor‘m Schlafengehen meistens dort hin, falls ich mal wieder länger penne als andere.

Ich müsste nur jemanden anrufen, den ich kenne, der würde mir zur Begrüßung gewiss meinen Namen sagen. Also drückte ich auf die Wahlwiederholung. Nach zwei, drei Tuuts meldete sich eine Frauenstimme, eine mir sehr bekannte Frauenstimme. Ihr Hallo! klang äußerst fröhlich. »Hallo!« sagte auch ich. »Du?« Sie wirkte verblüfft. »Ja, ich!«, sagte ich. »Mit dir hätte ich ja jetzt nicht gerechnet«, sagte sie. »Du weißt aber schon, wer ich bin?« fragte ich. Sie lachte. So schnell könne sie mich leider nicht vergessen, vor allem, wenn ich sie ständig anriefe. Stimmt, da war was gewesen. Und ihre letzten Worte waren: ›Ruf mich bitte nie wieder an!‹ So pflegte Katja in letzter Zeit ihre Telefonate mit mir immer zu beenden. Aber das war mir im Augenblick egal. »Katja«, beeilte ich mich zu sagen, bevor sie wie üblich auflegen konnte, »du musst doch wissen wie ich heiße, oder?« – »Wenn‘s dich glücklich macht«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung, »deinen Namen werde ich wohl nie vergessen.« – »Aber ich …« Doch Katja hatte schon aufgelegt.

Ich rief meine Mutter an, die Nummer hatte ich im Kopf. »Ach, schön, dass du anrufst«, sagte sie, »ich dachte, du schläfst noch um diese Zeit.« – »Ich bin auch noch nicht ganz bei mir. Mein Name will mir nicht einfallen.« Mama lachte. »Mama«, fragte ich, »kannst du mir nicht einen kleinen Tipp geben?« – »Ach, spinn doch nicht rum«, sagte meine Mutter, »du wirst doch wohl wissen, wie du heißt.« – »Ja, schon, aber weißt du es noch?« – »Für mich wirst du immer ›Spatz‹ heißen«, sagte sie. »Mama, sag mir, wie ich heiße!« – »Ach, Spatz, über so was macht man keine Scherze!« – » Bitte!« Jetzt flehte ich fast schon. Es entstand eine kleine Pause, die zu einer großen wurde. »Mama?« – »Ja, Spatz, ich bin noch da.« – »Und wie heiße ich?« – »Du? Ich …«, stammelte meine Mutter, »… ich ruf dich nachher noch mal an, ja?! Mach‘s gut!« Dann legte sie auf. Oje, meine eigene Mutter hatte vergessen, wie ich heiße. Wahrscheinlich hatte sie mich zu oft bei meinem Spitznamen gerufen.

Illustration: K.P.M. Wulff

Ich stand auf. Das war ja alles Quatsch! Mein Name musste doch irgendwo dran stehen. Zum Beispiel an meiner Wohnungstür. Ich öffnete sie und guckte unter den Klingelknopf. Abgerissen! Unglaublich, man sah zwar, dass da mal was geklebt hatte, aber was, das nicht. Dafür aber knallte meine Wohnungstür zu. Und ich hatte nur eine Unterhose an. Ein Nachbar kam die Treppe herab. Vom Sehen kannten wir uns schon seit Jahren, wir grüßten uns auch, aber da ich nicht einmal wusste, wie er heißt, war ich mir eigentlich sicher, dass ich ihn gar nicht erst nach meinem Namen zu fragen brauchte. Doch blieb er sogar stehen und musterte meinen fast nackten Körper. »Ich dachte, Sie wären schon ausgezogen.« – »Na ja«, sagte ich und sah an mir herab. »Mein Schwager hat sich nämlich im Namensladen an der Ecke Ihren Namen gekauft und jetzt spekuliert er auf Ihre Wohnung.« – »Er hat sich was?«, fragte ich. »Der war wohl im Angebot«, sagte er. »Man kann sich anderer Leute Namen kaufen?« – »Ihr Ausweis wird abgelaufen sein«, sagte der Nachbar, »da steht dann ihre staatsbürgerliche Existenz allgemein zur Verfügung.« – »Und ich?« fragte ich. »Besser drauf aufpassen«, sagte der Nachbar, »aber holen Sie sich doch einen anderen Namen, wird doch ständig was frei. Gestern hab ich im Schaufenster gesehen, dass ›Lustiger Tim‹ gerade frisch reingekommen ist.« – »Lustiger Tim?« – »Ja«, sagte er, »würde doch gut passen zu Ihnen.