Ivo Smolak: Musik nach dem Krieg

Er bemerkte nicht, dass ich ihn beobachtete. Der Taliban pfiff leise vor sich hin. Ich hatte Angst. Seit der Machtergreifung der Söhne Allahs war Musik streng verboten. Würde der pfeifende Taliban bemerken, dass ich ihn beobachte, käme er in arge Verlegenheit und würde mich sicherlich erschießen müssen. Es kam noch hinzu, dass genau dieser Taliban mein alter Klassenkamerad Marcel Pallaschke war. Wahrscheinlich trug er einen neuen Namen, wie alle, die sich als Revolutionswächter an die neuen Machthaber verdingt hatten.

Ich hatte Marcel Pallaschke sofort erkannt, trotz Vollbart und Turban und trotz der Jahre, die seit unserer Schulzeit vergangen waren. Taliban Marcel Pallaschke stand am menschenleeren Hackeschen Markt und hielt wahrscheinlich Wache. Seit die Taliban den Krieg gewonnen hatten, durfte keine Frau mehr ohne Burka unterwegs sein und Männer ohne Bart wurden oft kontrolliert.

Illustration: K.P.M. Wulff

Taliban Marcel Pallaschke hörte auf zu pfeifen. Was für ein Glück, jetzt musste ich nur noch einen Moment warten und dann würde ich unauffällig an ihm vorbei zum Sammeltaxistand gehen. Die S-Bahnen fuhren schon lange nicht mehr.

»Smolak, alte Nase«, hörte ich den Taliban rufen. Mist, er hatte mich entdeckt. Ein Gespräch mit einem Taliban sollte immer vermieden werden. Insbesondere mit einem deutschen Taliban, denn die waren meist übermotiviert.

»Inschallah, hast dir überhaupt nicht verändert, Smolak.«

Ich wußte nicht, was ich erwidern sollte – ihn mit Matze oder Pallaschke anzusprechen, wollte ich lieber vermeiden. Gleichzeitig war Freundlichkeit geboten.

»Nenn mich ruhig Matze, Smolak, ich bin da nich so, auch wenn ich jetzt eigentlich Yussuf heiße.« Freundschaftlich stupste er mir dem Lauf seiner Kalaschnikow zwischen die Rippen.

»Ja, hallo Matze-Yussuf. Na, wie geht‚s denn so?« sagte ich.

»Ich sehne mir nach dem Märtyrertod, is doch klar Smolak. Und dir? Wie geht's Frau und Kind?«

»Meine Frau, Matze-Yussuf, wurde gesteinigt, als sie neulich ohne Männerbegleitung den Müll runterbrachte. Mein Sohn lebt in der Koranschule im ehemaligen Sony-Center.«

»Allah nehme sich deiner Frau, der armen Sünderin, gnädig an. Sag mal Smolak, machste eigentlich noch Musik?«

Ich erstarrte, sah ihn an und versuchte seinen Blick zu erforschen. Musik war strengstens verboten. Gleichzeitig wusste Matze-Yussuf Pallaschke, dass ich vor dem Krieg lange in der Band Ivo Lotion & die Mariachis gespielt hatte, er war mal auf einem Konzert gewesen. CDs von uns und auch von anderen Bands wurden jetzt zu horrenden Preisen unter dem Ladentisch beziehungsweise unter dem Kaftan gehandelt. Seit der großen CD-Verbrennung im Jahr 2010 gab es kaum noch Platten und auf dem Schwarzmarkt kauften die Leute wahllos CDs, egal was drauf war. Von den alten CDs unserer Band hatte ich noch immer ein paar zu Hause gebunkert und konnte sie mitunter ziemlich gut losschlagen.

Matze-Yussuf Pallaschke schaute mich ernst an und begann dann leise den Song »Die perfekte Welle« von Juli zu pfeifen. Alle Mitglieder dieser Band wurden gleich nach dem Sieg der Taliban geköpft. Seitdem gelten sie im Untergrund als die Märtyrer der Opposition.

Pallaschkes Pfeifen war ein klares Zeichen. Ich fragte ihn flüsternd, über wie viel Bargeld er verfügen könne. »100.000« tuschelte er. Wir verabredeten einen Übergabeort, dann rief er laut lachend: »Verschwinde Ungläubiger!« und feuerte mit seiner Kalaschnikow aufs Pflaster vor meinen Füßen. Tänzelnd, hüpfend, springend bewegte ich mich zur Sammeltaxihaltestelle, denn Pallaschke schoss mir auf dem Weg dorthin noch mehrere kurze Salven hinterher. Aber eigentlich war die neue Zeit gar nicht so schlecht, ich konnte endlich von meiner Musik leben.