Spider: Das Rätsel Brecht

Brecht ist der große Unbekannte in der deutschsprachigen Literatur. Geheimnisumweht bis zum heutigen Tage. Eugen Berthold Friedrich Brecht. Geburts- und Todestag sind unbekannt, ebenso die meisten seiner Werke. Ich weiß nicht mehr warum, wahrscheinlich war ich gerade krank, als der Stoff in der Schule durchgenommen wurde, oder ich weilte – kränkelndes Kind, das ich stets war – in irgendeinem Sanatorium. Vielleicht war auch hitzefrei. Man weiß es nicht genau. Man weiß es nicht mehr. Vergessenes Wissen, verloren gegangen, wie so vieles, was wir heute über Brecht nicht wissen.

Stattdessen beleben Gerüchte das Labyrinth der Vorstellungen, die wir uns von Brecht machen. Ein Genie soll er gewesen sein. Kommunist. Dichter. Möglich ist das alles. Besonders dass er Dichter war ist sehr gut vorstellbar. Schließlich führt die Internet-Buchhandlung Amazon unter dem Namen Bertold Brecht 1093 Titel. Unter anderem in so illustren Kategorien wie: Erotik; Freizeit, Haus & Garten; Reise & Abenteuer; Religion & Esoterik; Sport & Fitness. Eine Vielfalt, die darauf schließen lässt, dass er wohl wirklich ein Genie war. Und eine Quantität an Text, die dafür sorgt, dass er wohl auf ewig rätselhaft bleiben wird und sein Schaffen unbekannt, zumindest mir. So viel kann ich beim besten Willen nicht lesen, ich muss noch abwaschen, den Müll runterbringen und den Großen vom Kindergarten abholen. Schon allein durch seinen Umfang entfremdet sich das Werk vom Rezipienten und macht den Autor zur tragischen Figur, zum Unverstandenen. Brecht, der Workoholic, der Adolf Hennecke des literarischen Schaffens, der rätselhafte Fremde.

Aber Brecht war auch ein Mann des Theaters. Das Berliner Ensemble an den Gestaden der Spree gilt als sein Theater, was damit zusammenhängen mag, dass er es gegründet hat. Hier erlebte ich vor Jahren einmal eine Aufführung vom Leben des Galilei. Es war unvergesslich - sonst könnte ich jetzt ja auch nichts darüber berichten. Schon der Einstieg in die Thematik gestaltete sich äußerst schwierig, denn ich war erst zur Pause eingelassen worden. Ich war an einem milden Abend durch Berlins Mitte geschlendert und ein Sommerregen, eine Husche, hatte mich zu einem Theaterbesuch überredet. Eigentlich wollte ich mich bloß im Foyer unterstellen. Aber siehe da, soll noch mal einer sagen, das Theater halte keine Überraschungen mehr parat, der Kartenabreißer war ein ehemaliger Mitschüler von der Volkshochschule. Er ließ mich umsonst hinein und ich nahm als einziger auf dem Rang des Theatersaales Platz. Es war ein prächtiger Saal: Zierrat, Stuck und Blattgold soweit das Auge reichte. Man konnte sich gar nicht satt sehen. Diese Aufführung stellte das Theater eindeutig in den Mittelpunkt. Von der Bühne sah man nämlich nichts. Eine metallfarbene Platte sperrte die obere Hälfte des Bühnenraumes nach vorne ab, so dass man, saß man auf dem Rang, gerade mal den vorderen Bühnenrand sehen konnte. Kein Schauspieler, kein Bühnenbild, nichts lenkte den Besucher des Ranges ab von seinen eigenen Gedanken. Das war der berühmte Brecht‘sche Verfremdungseffekt, dialektisches Theater, so erklärte mir hinterher der Kartenabreißer mit abschätzigem Blick auf das Gelichter, das banausenhaft im Parkett gesessen hatte. Obwohl sie alle doppelt so lange in dem Stück waren wie ich – ich war ja erst zur Pause gekommen –, hatten sie wahrscheinlich nur halb so viel selber nachgedacht in der Zeit. Brecht würde sich im Grab umdrehen. Worum es im Leben des Galilei ging, weiß ich bis heute nicht. Brecht, einer der rätselhaftesten Autoren des 20. Jahrhunderts, ein großer Unbekannter.

Der Verfremdungseffekt übrigens, der war wahrscheinlich Schuld am Untergang der DDR. Die ganze DDR basierte nämlich auf dem Verfremdungseffekt, nicht bloß das Theater am Schiffbauerdamm. Dort sollte der Zuschauer eine Distanz aufbauen statt einer Identifikation, sich nicht von der Handlung gefangen nehmen lassen, sondern sich der Illusion bewusst werden, gesellschaftliche Missstände analysieren und hinterfragen. Das war das epische oder auch dialektische Theater. Genauso gab es in der DDR dialektische Restaurants, in denen der Gast sich der Illusion bewusst werden konnte, epische Warenhäuser, in denen der Kunde eine Distanz aufzubauen konnte,und Ferienziele, wo der werktätige Urlauber Missstände zu hinterfragen gezwungen war. Genau genommen wurde Ostdeutschland von Künstlern regiert, die Methoden des Theaters auf die Gesellschaft übertragen hatten und damit scheiterten.

Ein kleiner Exkurs sei mir gestattet: Heute ist das Theater ein bisschen zu einer elitären Angelegenheit geraten, aber das politische Kabarett ist sehr populär. Ein besonderer Ausweis von Qualität scheint dabei zu sein, wenn einem, wie man häufig hört, »das Lachen im Halse stecken bleibt«. Und analog dazu war ich auch schon in politischen Restaurants, wo einem das Essen im Halse stecken bleibt, aber das bloß nebenbei. Zurück zum großen Unbekannten der deutschen Literatur, dem rätselhaften Brecht.

Rätselhaft auch die Musik, diese Brecht-Weill-Musik von Weill, zu der Brecht die Texte schrieb. Sie klingt wie eine Parodie auf Musik. Genau wie die Beach Boys. Aber auch das soll nur am Rande erwähnt werden, denn ich muss noch einkaufen gehen, den Kleinen baden und Wäsche aufhängen.

Es ist anstrengend, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren, wenn man kein Hausmann ist, sondern zum Beispiel Schriftsteller, so wie Brecht oder wie ich. Andererseits habe ich jetzt, wo ich auch Schriftsteller bin, endlich die Gelegenheit und den Anlass, mich mal mit dem Kollegen Brecht zu beschäftigen. Auf Augenhöhe sozusagen. Früher, als ich BMSR-Techniker war, hat mich eine Auseinandersetzung mit Brecht einfach nicht interessiert, er war ja kein BMSR-Techniker. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, Brecht, als der Marxist der er war, würde mir sicher recht geben, soviel ist sicher. Alles andere ist ein Rätsel. Das Rätsel Brecht.