Jochen Schmidt: Die Aufkündigung der Gastfreundschaft ist eine extreme aber manchmal unvereinbare Maßnahme

Kaum, dass ich sie eingeladen habe, warte ich schon auf meine Gäste, die natürlich zu spät kommen. Am meisten Angst habe ich vor dem ersten Gast, der mit seinen ungeschickten Bewegungen alles durcheinander bringen wird, die Speisen am Buffet betastet, die Salzkristalle von den Salzstangen nagt und gelangweilt die Hackfleischfüllung aus den Tomaten pult. Alle Flaschen dreht er mit dem Etikett nach hinten, so dass man nicht mehr ohne weiteres die Marken erkennt. Ich darf den ersten Gast nicht aus den Augen lassen, aber ich muss zur Tür, weil in immer schnellerem Rhythmus neue Gäste eintreffen, die ich als Gastgeber persönlich zu begrüßen habe, während die bereits anwesenden Gäste meine Unaufmerksamkeit nutzen, um durch mein Zimmer zu toben und auf den Boden zu spucken. Machtlos sehe ich durch die geöffnete Flurtür, wie sie, berauscht von der eigenen Bosheit, ausgelassen in die Hände klatschen, aber ich kann nicht einschreiten, weil ich den neuen Gästen öffnen muss.

Dabei scheinen mich die meisten gar nicht zu erkennen und selbst für einen Gast zu halten. Sie saugen an den Flaschen und für mich bleibt nur das Gurkenwasser. Und für meine künstlerische Darbietung, mit der ich den Abend beleben wollte, bringt niemand Interesse auf. Man schubst mich durch die Wohnung, bis ich mich von der Balkonbrüstung hänge, um auszuruhen, wobei man mir auf die Finger ascht. Neben mir hängt meine Nachbarin, die immer so rührende Geräusche macht beim Masturbieren, anders als ich, denn als Frau verfügt sie über eine natürlich Anmut. Noch nie haben wir ein Wort gewechselt, weil wir uns immer voll beladen mit Einkaufsbeuteln oder Mülltüten begegnen und von der Anstrengung des Treppesteigens keuchen. Jetzt, wo sie neben mir hängt, scheint der Moment gekommen, einmal über seinen Schatten zu springen. Ich gebe ihr die Hand, was das Risiko zu fallen erhöht. Ich erfahre von meiner Nachbarin, dass ihre Gäste ihr ähnliche Probleme bereiten wie meine, weswegen sie hier hängt. Sie steckt sich eine Zigarette in den Mund, und ich entzünde mit überraschendem Geschick einhändig ein Streichholz, während ich darüber nachdenke, ob es ›der‹ oder ›das‹ Streichholz heißt. Wir beschließen, uns in Zukunft mehr Zeit füreinander zu nehmen.

Illustration: K.P.M. Wulff

Es ist ein großes Glück, Nachbarn zu haben, mit denen über die wesentlichen Fragen des Lebens Einigkeit herrscht, die einen nicht mit ihren Sorgen belasten, sondern ein aufmunterndes Wort finden, wenn man einmal den Kopf hängen lässt. Es wäre dumm, so ein gutnachbarschaftliches Verhältnis aufs Spiel zu setzen, indem man z.B. im Wohnzimmer einen Durchbruch macht. Wo einmal zwei Wohnungen waren, wäre dann nur noch eine. Was dafür spräche, wären natürlich die größeren Verpackungseinheiten, die gegenüber den üblichen Verpackungen einen unbestreitbaren Preisvorteil bieten. Mit dem gesparten Geld könnte man sich seine Träume erfüllen, z.B. eine Taucherausrüstung kaufen oder geschmeidige Schuhe, in denen es sich völlig schmerzfrei spaziert. Der Bewegungsradius würde sich erhöhen und man würde aus entlegeneren Gebieten exotischere Lebensmittel nach Hause bringen, wodurch für Abwechslung auf dem Speiseplan gesorgt wäre, und Liebe geht bekanntlich durch den Magen.

Das alles geht mir durch den Kopf, während ich meine Hand mit dem brennenden Streichholz dem Gesicht meiner neben mir hängenden Nachbarin nähere, um die aus ihrem Mund ragende Zigarette genau an ihrer Spitze anzuzünden, wie ich es so oft bei Rauchern beobachtet habe. Meine Gäste haben inzwischen aufgegessen, stehen rülpsend auf dem Balkon und machen abfällige Bemerkungen über die Gegend, in der ich lebe. Es ist immer aufschlussreich, Gäste zu haben, denn erst als Gast zeigt der Mensch sein wahres Gesicht. Den wenigsten Gästen gelingt es, einen für sie befriedigenden Abend zu verbringen, ohne eine Unordnung zu hinterlassen, die sich nie wieder ganz beseitigen lässt, oder Sätze zu sagen, über die man im Bett lange nachdenken muss, während der Gast sich schon auf dem Heimweg befindet, sich den Mund abwischt und triumphierend die Hände reibt, weil seine Rechnung wieder einmal aufgegangen ist.