Volker Surmann: Harry Rowohlt und der Auftritt des Volkers

Es gibt Zeitgenossen, die mitleidig seufzen: »Ach der Harry Rowohlt, der säuft sich noch mal das Hirn weg!« Es gibt andere Zeitgenossen, die seufzen: »Schön wär‘s!«

Aber irischer Billigwhiskey und Guinness vom Fass kriegen Harry Rowohlts Erinnerungsvermögen einfach nicht unter den Tisch getrunken: Harry Rowohlt kann sich an alles erinnern und nicht nur das: Er will sein Wissen nicht hinter dem Bart halten.

Eine Gemeinschaftslesung für den Rundfunk. Als ich die Garderobe betrete, sehe ich alle anderen Kollegen fasziniert an Harry Rowohlts Lippen hängen; erkenne bald darauf, dass sie nur verzweifelt darauf warten, dass jene sich mal für einen Moment schließen. Denn Harry Rowohlts Gedächtnis macht einen auf Schlussverkauf: Alles muss raus! Namen und Geschichten fliegen uns um die Ohren: Hermes Phettberg, Eckard Henscheid, Paul Auster, Frauen, Sadomaso, Karikaturen, Auftritte. Harry Rowohlt greift zu einer Tasse Kaffee, vergisst aber, sich zu unterbrechen. Dumpf blubbert es aus dem Porzellan, während er versucht, den Namen ›Phettberg‹ auszusprechen. Wir gehen in Deckung.

»Und da sag ich: ›Du Hermes‹. ›Du Hermes‹, sag ich zu dem Hermes Phettberg, ›die Idee mit dieser Hochschule für Pornographie und Prostitution ist ja nicht schlecht, aber verrenn Dich da nicht.‹ Der Hermes Phettberg war ja noch viel besser, als er nicht nur so auf Sadomaso ging.«

Geschichten, Anekdötchen, Witze winden sich aus seinem Mund, verkräuseln sich und gerinnen zu schwarzem Bartgestrüpp. Gleich einer Ballmaschine sitzt Harry Rowohlt in der Ecke der Garderobe und schießt eine Anekdote nach der anderen ab: »…und da war ich doch neulich in Nürnberg, da kam nach der Lesung ‘ne Frau zu mir und meinte, wir wären mal im Bett gewesen. Da hab ich der gesagt: ›Ich hab in Nürnberg noch nie ‘ne Frau abgeschleppt, aber ich glaub, das war ein Fehler‹.«

»Ha ha«, sagt ein Kollege und flüchtet auf die Klokabine. Durch die dünne Sperrholzwand hört man daraufhin sein Strullen, was lautmalerisch genau das ausdrückt, was wir hören: einen lang anhaltenden, kraftvollen Strahl in eine Kloschüssel. Der Mensch besteht zu 63 Prozent aus Wasser, und es klingt, als habe der Kollege vor, die Klokabine als Staubwolke zu verlassen.

Harry Rowohlt zupft sich am Bart. Das bedeutet, dass sich die Anekdotenmaschine wieder lädt: »Wenn das der Ronald Pofalla von der Titanic hören könnte! Ganz blass würd‘ der hier werden und weinen. Bei dem plätschert‘s nur ‚n ganz bisschen wegen seiner Phimose.« 

»Aha, so so…« Einer der Kollegen guckt etwas ängstlich: »Ich muss mal ganz dringend rüber und … äh … die Stühle im Saal zählen«. Spricht‘s und stürzt aus dem Raum.

Harry Rowohlt zupft sich wieder am Bart: »Da fällt mir ein, ich war mal in Dobblm…« Harry Rowohlt guckt mich an, während das Strullen in der Klokabine in ein leises Schluchzen übergeht.

»In Dobblm…« – Wenn Harry Rowohlt ›Dublin‹ ausspricht, dann sagt er ›Dobblm‹, weil das authentischer sei. Es klingt zwar mehr nach Fabelwesen mit hässlichen Ohren aus Harry-Potter-Romanen, denen Hermine gerade heiße Kartoffeln in die Nase gezaubert hat, aber egal. Dobblmer Iren sagen: ›Dobblm‹!

Ich weiß nicht, was in Dobblm war. Ich glaube, Harry hat dort mal einen Mann nachts von einer Brücke pinkeln sehen. Ich hab das Ende der Geschichte nicht mitbekommen, denn auch ich musste dringend noch mal in den Saal. Stühle zählen.

Schon bald zählen alle anderen Autoren gemeinsam Stühle, mal von vorne, dann noch einmal von hinten, dann jeder für sich. Nur gelegentlich, wenn wir uns ein frisches Bier aus dem Kühlschrank holen, betreten wir die Garderobe, wo Harry Rowohlt einsam in der Ecke sitzt und vor sich hin anekdotiert. Ballmaschinen kann man ausstellen, Harry Rowohlt bleibt er selbst. Schnell öffnen wir das Bier mit dem Feuerzeug, prosten dem alten Herrn freundlich zu und verlassen eilig den Raum.

 

Harry Rowohlt wird auch an diesem Abend gefeiert. Er beginnt seinen Vortrag mit der Bemerkung, er sei nur Übersetzer. Er schreibe ja nichts Eigenes, er habe gar nichts zu erzählen. Ich glaube ihm nicht. Vermutlich hat er zu Hause eine fertige Autobiografie liegen, aber die Veröffentlichung scheitert, weil sie nicht mehr durch die Wohnungstür passt.

Während seines halbstündigen Viertelstundenbeitrags schaut der Aufnahmeleiter hinter dem Vorhang immer wieder bang auf die Uhr und dann angestrengt in den Saal. »288« rufe ich ihm leise zu.

 

Nach der Vorstellung sitzen wir beim Spanier vor einem großen Teller mit Tapas. Harry Rowohlt guckt hungrig auf die Feigen im Speckmantel und all die anderen aufgetürmten Leckereien, aber um sie zu essen, müsste er sich unterbrechen… – Genüsslich schiebe ich mir eine Feige nach der anderen unter die Zunge, kaue verzückt und sage nach jeder Feige: »Mhm, lecker, is‘ ja interessant, Harry«, während Harry Rowohlt aus seinem Hirn alle Geschichten zu den Stichworten ›Feige‹, ›Speck‹ und ›Mantel‹ hervorgoogelt: »Damals ‚89 in Dresden, als mir der feige Carsten Speck einen Mantel geklaut hat…«

Als der Tapas-Teller leer ist, stehen alle anderen am Tisch plötzlich auf und gehen gemeinsam aufs Klo. Plötzlich sitze ich allein mit Harry Rowohlt am Tisch. 

»Du bist doch schwul, oder?« fragt er mich unvermittelt.

»Ja-aa«, antworte ich zögerlich. Für eine Flucht ist es zu spät und auf dem Klo dürfte eh kein Platz mehr sein.

»Ich hab da gestern einen Schwulenwitz gehört, kennst du den?« Und dann erzählt mir Harry Rowohlt einen Schwulenwitz. Nur so viel: Es kommen ein Schwuler, ein Arzt und ein Mon Chéri drin vor, und der Witz hatte einen ähnlich langen Bart wie Harry Rowohlt.

Dann verzieht sich Harry aufs Klo, Guinness wegbringen oder seine entschwundenen Zuhörer suchen, und ich frage ich mich: Wenn mir Harry Rowohlt nachts um drei in einer Kölner Kneipe Schwulenwitze mit Bart erzählt; heißt das, ich gehöre nun zum literarischen Establishment? Und wie lange wird es noch dauern, bis auch ich anfange, Anekdoten über andere Kollegen öffentlich auszuplaudern?