Sarah Schmidt: Der König ist tot

Mit 13 oder 14 Jahren fing unsere Klasse mehr oder weniger gemeinsam an zu pubertieren. Gleichzeitig fingen wir an, uns für Musik zu interessieren. Doch die Kombination aus überschäumenden Hormonen und Musik kann nicht zugunsten der Musik ausfallen, und so waren meine Lieblinge die Teens, die Bay City Rollers und Rod Stewart.

Einer von den Teens, damals die Berliner Jugendband, ging auf meine Schule. Meine Freundinnen und ich wussten das gewinnbringend zu nutzen. Wir waren an einer dieser in den Siebziger Jahren modernen Ganztagsschulen, die aussahen wie Wurstfabriken. 1200 Schüler waren auf vier Klassenstufen verteilt. Die meisten Unterrichtsräume waren aus Gründen der architektonischen Modernität Dunkelräume: Zimmer ohne Fenster, dafür mit Neonlicht, Klimaanlage und Glasscheiben in den Türen. Eine Mensa, eine Disko sowie ein so genannter »AUA-Bereich« für außerunterrichtliche Aktivitäten komplettierten die sonderbare Inneneinrichtung.

Mädchen aus anderen Schulen pilgerten zu uns, um Einzelheiten über den Bravo-Kinderstar zu erfahren. Wie er lächelt (»Total süß!«), was er anzieht (»Nur das Schickste!«), ob er eine Freundin hat (»Nein, nein, natürlich nicht.«) und in welchem Raum er derzeit Unterricht hat. Für drei Mark führten wir sie zu dem entsprechenden Klassenzimmer. Von meinem Anteil des verdienten Geldes kaufte ich mir, wegen meiner Verehrung der Bay City Rollers, eine schwarz-rot karierte Hose.

Unsere Klasse war extrem durchschnittlich in ihrer musikalisch-weltanschaulichen Ausrichtung. Popper, Alternative, Punks, Hardrockmöchtegerngitarristen, ein paar Vollidioten und die üblichen Diskomäuschen teilten sich die Sitzbänke.

Nur Andreas, der war etwas Besonderes. Er war der einzige in der Klasse, wahrscheinlich sogar der ganzen Schule, der durch und durch Elvisfan war. Er wusste alles über den King. Wie viel er wiegt, welche Lieder auf »Aloha from Hawaii« sind, wie die dritte Zeile von Heartbreak Hotel lautet, eben einfach alles. Er trug T-Shirts mit Elvis drauf und seine Federmappe war mit selbst gemalten Herzchen verziert, in denen die Initialen E.P. prangten. Einfallsreich wie Jugendliche sind, bekam Andreas den Spitznamen Elvis. Sogar die Lehrer, die sich bei uns einschmeicheln wollten, weil sie Kunst, Musik oder Sozialkunde unterrichten mussten, nannten ihn so.

Alles war gut und ging seinen Gang, bis zu diesem rabenschwarzen Tag im August. Auf dem Schulweg schon erfuhren wir es aus der B.Z.: ELVIS PRESLEY, DER KING OF ROCK'N ROLL, IST TOT!!

Mein Gott, wie muss es da unserem Elvis gehen?

Er trug schwarz, legte diese Farbe seit diesem Tag auch nie wieder ab, und er weinte. Er schluchzte in Mathe, heulte in der Pause und vor lauter Mitgefühl flennten wir alle mit. Erst der Tod von Elvis hat uns alle zu seinen Fans gemacht. Mein Gott, was hat der Mann für großartige Musik gemacht! Und jetzt tot. Für immer. Unfassbar.

Illustration: K.P.M. Wulff

Unsere Gefühle für den King hielten sich, solange im Radio jeden Tag etwas über ihn gebracht wurde und das Fernsehen Sendungen über das Schaffen und Wirken von Elvis zeigte. Also etwa fünf Wochen.

Danach widmeten wir uns wieder unseren Problemen. Die Teens wurden von den Sex Pistols abgelöst, die Bay City Rollers von den Specials, Rod Stewart von Bob Marley. Nur unser Elvis, der blieb seinem großen Vorbild treu.

Nach der 10. Klasse trennten sich unsere Wege. Die einen machten wahrscheinlich Abitur, die anderen eine Lehre, zwei landeten auf dem Strich, einer wurde erschossen und manche werden geheiratet haben oder sie sind in den Knast gekommen. So etwas wie ein Klassentreffen gab es nie, unsere Schule ist längst abgerissen, weil sie asbestverseucht war, die Kontakte sind abgebrochen.

Einige Jahre später ging ich nichts ahnend zu einem Punkrockkonzert und wer saß da mitten in einer Gruppe Punks? Immer noch klein und in schwarz, mittlerweile aber langhaarig? Ja, das muss er sein.

»Elvis, hey Elvis! Was machst du denn hier?«, schrie ich durch den Raum. Elvis wurde rot, sehr rot, seine Freunde starrten ihn entgeistert an. Dann drehte er sich weg. Ich murmelte etwas von einer Verwechslung.

»Ey, ich heiß übrigens nicht mehr Elvis, ich heiß jetzt Pogo.«, sagte er später. Er stand mit zwei Bierflaschen neben mir, reichte mir mit einem freundlichen Stups in die Seite eine davon zu und fragte trocken: »Und selber? Immer noch unsterblich in Thomas Kowalski aus der 8a verknallt?«