Robert Naumann: Mordsucht

Am liebsten würde ich das Haus gar nicht mehr verlassen. Es scheint mir für die Leute da draußen zu gefährlich. Wenn man jeden Tag das Bedürfnis unterdrückt, Amok zu laufen, staut sich immerhin einiges an. Da kann nur ein Megaamoklauf dabei rauskommen, irgendwann. So lange ich da draußen rumlaufe, bin ich eine tickende Zeitbombe. Aber ich muss, weil ich ab und zu mit Kinder-von-der-Schule-abholen oder -bringen dran bin. Und allein die Fahrt zur Schule und zurück weckt eine dermaßen unbändige Mordlust in mir, dass ich immer wieder froh bin, wenn ich die Wohnung erreicht habe, ohne dass jemand zu Schaden gekommen ist.

Wenn ich die Kinder abhole, geraten wir in den Berufsverkehr. Die U2 ist voll und wir passen gerade so noch rein. Aber bei den nächsten Stationen werden noch mehr Leute gerade so noch reinpassen. Es passt immer jemand gerade so noch rein.

Laute Musik schallt durch den Waggon. Sie stammt von einem sonnenbankgebräunten jungen Mann, der seinen MP3-Player so laut gestellt hat, dass ich das Gefühl habe, Scooter würde mir direkt ins Ohr schreien. Offenbar hat der junge Mann die Repeat-Taste gedrückt, denn bis Pankow hört Scooter nicht auf zu schreien.

Illustration: K.P.M. Wulff

Neben mir steht eine dickliche Frau. Ihr teigiges Gesicht glänzt fettig von dicken Schichten Schminke und sie riecht, als hätte sie die Ozonschicht ganz allein zerstört. Eine unsichtbare Wolke aus Deospray umhüllt sie und als eine Fliege das Pech hat, den Rand der Dunstglocke zu streifen, fällt sie röchelnd zu Boden und stirbt. Wie kann diese Frau glauben, dass sie gut riecht? Dann doch lieber einen durchgeschwitzten Bauarbeiter, dessen Dusche seit zwei Wochen kaputt ist. Kaum zu glauben, aber in der Schönhauser Allee steigt tatsächlich so jemand ein. Stellt euch vor, wie sich nun die Aromen vermischen zu einem Konglomerat aus altem Schweiß und billigem Deospray und wie Scooter dazu rumbrüllt. Die Frage ist doch nicht, warum man Amok läuft, sondern warum man nicht Amok läuft.

Die Kinder halte ich zwar immer noch an den Händen, aber die Körper dazu sind irgendwo zwischen den Fahrgästen eingekeilt. In Pankow ist Endstation, und obwohl wir der Tür am nächsten sind, steigen wir als letzte aus. Ein Phänomen, das wir immer wieder erleben.

Am schlimmsten ist es, wenn ich die Kinder morgens bringe und wir in Pankow aus der S-Bahn aussteigen wollen. Die Leute auf dem Bahnsteig wollen das immer wieder verhindern. Kaum steht die S-Bahn und die Türen gehen auf, drücken sie sich an der Seite durch und rempeln mich dabei an. Nirgendwo ist die Ellbogengesellschaft besser zu beobachten als im öffentlichen Nahverkehr und nirgendwo ist meine Mordsucht größer als hier. Es sind nicht nur zwei oder drei unverbesserliche, es sind alle. Sie haben diesen nach innen gerichteten Blick, völlig konzentriert nur auf die eine Aufgabe: in der Bahn zu sein, bevor jemand aussteigen konnte. Ob die Bahn voll ist oder leer, ob im Berufsverkehr oder zur Mittagszeit, das spielt keine Rolle. Sie quetschen sich an mir vorbei und stellen ungefragt Körperkontakt her. Oft bleibe ich dann wie paralysiert stehen und fahre ein paar Stationen weiter als beabsichtigt.

Aber die U-Bahn endet in Pankow und so drängen sich nur die Aussteigenden an uns vorbei. Jetzt hoch zur S-Bahn. Das nächste Hindernis wartet schon. Die Werber vom Naturschutzbund, kurz Nabu, versperren uns den Weg. Eine gute Sache, der Naturschutzbund. Keine gute Sache, wie sie auf Mitgliederjagd gehen. Niemand hat das Recht, mich auf der Straße einfach anzuquatschen, es sei denn, er fragt nach dem Weg oder ähnlichem. Und niemand hat das Recht, sich mir in den Weg zu stellen. Wenn die einfach da stehen würden mit einem Stand, ruhig und friedlich, würde ich sogar mal gucken und vielleicht mitmachen beim Naturschutz. Aber das haben sie sich selbst versaut mit ihrem aggressiven Auftreten.

Da kommt schon einer mit ausgebreiteten Armen auf uns zu, damit wir auch keine Chance haben, an ihm vorbeizukommen. Mit den Kindern ist für solche Fälle alles abgesprochen. » Jetzt! «, rufe ich und die Kinder sausen unter den ausgebreiteten Armen des Naturschützers durch, während ich rechts antäusche und dann links vorbeirenne. Er rennt uns natürlich hinterher, bis hoch zum Bahnsteig. Dort krallen sich seine Finger in mein Hemd, aber ich kann ihn abschütteln und wir sprinten in die S-Bahn, die im nächsten Moment abfährt. Geschafft!

Nun muss ich bis Blankenburg nur noch die missmutigen und vorwurfsvollen Blicke vieler Fahrgäste ertragen, weil die Kinder leise vor sich hin singen. Einer schlägt demonstrativ stöhnend sein Buch zu, verdreht die Augen und schüttelt mit dem Kopf. Als wir in Blankenburg aussteigen, atmet das ganze Abteil erleichtert auf. Auch ich. Ich bin stolz auf mich, dass wieder mal nicht Amok gelaufen bin. Aber lange geht das nicht mehr gut.