Zeichen, Zeiten, Tage und Wunder

Ganz vorsichtig

(assr) Dieses ›Ganz vorsichtig‹ oder auch nur ›Vorsicht‹, wohlgemerkt ganz leise, aber nachdrücklich und drohend ausgesprochen, hat mir in meiner späten Jugend manche Schlägereien mit Nazis aus Bielefeld erspart. Das Gegenüber schreckt gegenüber der vermeintlichen Kaltblütigkeit zurück und trollt sich. Wenn die Drohung nicht hilft, muss eine Ohrfeige her. Nichts ist für einen Jungnazi demütigender als eine Ohrfeige. Einer hat sogar mal mit den Tränen kämpfen müssen. ›Vorsicht‹, er ist erst verdutzt, dann will er nicht zurückstecken, ballt eine Faust, ich gebe ihm mit der flachen Hand volle Kanne eine Backpfeife, er guckt um sich, ob einer seiner Kameraden das gesehen hat, dann sieht er kurz mich an, ich muss eine Miene haben wie Alain Delon, und wenn er dann nicht abhaut, habe ich verloren.

Autorenlesung

Der Autor räusperte sich. Anschließend öffnete er langsam sein Buch und blickte auf eine vorsichtige Art hinein, wie jemand, der sich im Spätsommer vor jedem Schluck versichert, dass sich keine Wespe in seinem Getränk befindet. (Uli Hannemann)

Fischerpinte Plötzensee

»Wir brauchen unbedingt Eis!« – »Hm.« Der bärtige Mann hinter dem Tresen schlurft zur Eistruhe. Mit der Beute am Stiel gehen wir hinaus auf den Steg, die Sonne scheint, die Boote schaukeln. Die Plastikstühle und Tische am Wasser sind voll besetzt, eine Frau schielt wahrscheinlich auf mein Eis. »Na dit sieht ja lecker aus!« – »Ja das ist toll!«, sage ich, »das gibt‘s schon ewig, dreißig Jahre bestimmt.«

»Aber so lange lebste doch noch gar nicht!«

»Dochdoch…«, gebe ich zu

»Naja, jeden Tag eine gute Tat!«, schiebt sie nach und lächelt. Ich muss einen kurzen Moment darüber nachdenken. Aber das gehört sich für ein Berliner Kompliment ja auch so. (Frank Sorge)

Zählbare Ergebnisse

(jw) Zu zweit joggen die beiden jungen Männer los, die Straße runter in Richtung Park. Eine halbe Stunde später sehe ich sie wieder, wie sie zurückkommen. Der eine, der im roten T-Shirt hängt jetzt einige Meter hinterher. Er ist ganz schön am Japsen. Dann, durch geschicktes Abkürzen beim Überqueren der beiden letzten Kreuzungen, gelingt es ihm doch am Ziel wieder zu seinem Partner aufzuschließen. Bestimmt hat er das die ganze Strecke über so gemacht. Und stetig vergrößert sich so mit jedem gesparten Meter sein Trainingsrückstand.

Die Holzspielzeugfraktion

Im Kaiser’s im Winsviertel im Prenzlauer Berg. Ein Kind macht vor der Fleischtheke Faxen. Der junger Fleischfachverkäufer möchte es auf nette Art beruhigen. »Guck mal« sagt er und hält dem Kind eine Scheibe ›Bärchenwurst‹ hin. Kind und Bärchen schauen sich einen Augenblick an. Dann zerstört die Mutter das traute Band: »Mein Kind isst nichts, was ein Gesicht hat.« (Anselm Neft)

»Wirtel« nachschlagen

(jw) Ein Freund schickt mir einen Wikipedia-Link, um zu beweisen, dass das Wort ›Wirtel‹ so abseitig nicht sei, wie ich beim Bier in der Nacht zuvor behauptet hatte. Als ich seinen Link anklicke, erscheint: »Kein Eintrag vorhanden. Wollen Sie jetzt zu ›Wirtel‹ einen Wikipedia-Eintrag erstellen?«

Ich will nicht, schicke meinen Freund aber diese für seine Einschätzung der Landläufigkeit des Wortes »Wirtel« im deutschen Wortschatz wenig schmeichelhafte Information. Er, schreibt er zurück, habe sehr wohl einen entsprechenden Wiki-Eintrag gefunden und ich digitaler Hinterwäldler solle mir doch endlich auch mal das Web 2.0 auf meinem alten Rechner zulegen. Web 2.0? Sowas kommt mir erst ins Haus, wenn eines Tages Web 3 rauskommt und die alte Version dann nix mehr kostet.

Ach ja, das lächerliche Wort ›Wirtel‹ nachschlagen müssen Sie schon selbst. Es steht tatsächlich in diversen Lexika. Zu seiner weiteren Verbreitung über obskure Schlangenzüchterzirkel hinaus auch noch beizutragen liegt mir aber fern.

Ethnisches Saubermachen

(bb) Neulich geh ich aus dem Haus, da sticht mir ein kleines Plakat ins Auge. Es klebt an einem Ampelmast, und schwarz auf weiß steht da:

»Schwaben in Prenzlauer Berg - spießig, überwachungswütig in der Nachbarschaft und kein Sinn für Berliner Kultur. Was wollt ihr eigentlich hier???«

Hm. Immer kleben die Leute alles voll, Stromkästen und Haustüren und Ampelmasten und alles. Ich mach den Zettel ab und falte ihn zusammen. Die Rückseite kann man noch gut beschreiben. Dann rubbel ich die Tesafilmspuren vom Ampelmast. Das ist gar nicht so einfach, aber mit ein bisschen Waschbenzin geht das. So, der Ampelmast ist wieder sauber.

Ich vermute ja, das war der Typ aus dem Hinterhaus. Der Punk. Der hockt den halben Tag vor Kaiser‘s und schnorrt. Aber immer erst ab viertel nach zwei. Der schläft ja immer bis um eins.

Dann pflanzt er sich vor Kaiser‘s und quatscht jeden an. »Hallole, hosch du mol oin‘ Euro für mi?«

Ich geb ihm immer zwei Euro. Das geht ganz schön ins Geld, aber so hält er mich wenigstens nicht für einen Schwaben.

Ich geh zu Kaiser‘s rein. Ich brauch ein neues Kehrblech. Das alte ist schon ganz durchgewetzt. Ich komm wieder raus, da hör ich ihn schon: »Hallole, hosch du mol oin‘ Euro für mi?«

Ich geb ihm ›zehn‹ Euro und sag: »Stümpt so. ßwee füa düsch, un‘ achte füa die Balina Kultua. Keene Uasache, Meesta.«

MySpace I

Das, was heute ›MySpace‹ ist, hieß bei uns damals ›Stasiakte‹. Und man musste die Freunde nicht mal selber adden. (Nils Heinrich)

MySpace II

Neulich wollte ich mich als Betreiber einer MySpace-Bandseite mit Kim Jong Il anfreunden. Doch mein Ansinnen wurde von dessen MySpace-Seite zurückgewiesen mit der harschen Auskunft: »Kim Jong Il akzeptiert keine Anfragen von Bands.« Blöder Steinzeitkommunist! (Nils Heinrich)

Persönliche Historie

(assr) Vor kurzem habe ich alle meine Kontoauszüge der Jahre 1987 bis 2000 weggeschmissen. Ins Altpapier. Weg damit! Aber vorher habe ich sie mir alle noch mal durchgelesen.

»Irrer greift Köhler an« (B.Z.)

Gegeißelt wird »die feige Attacke auf den Präsidenten« durch einen Verwirrten. Am helllichten Tag. Von vorne. Bei einer Massenveranstaltung. Unbewaffnet. Allein. Gegen einen von zwanzig Bodyguards bewachten Mann. Wirklich sehr feige. (Uli Hannemann)

Mein Migrationshintergrund

(bb) Am Telefon nach erfolgreich absolviertem Heimflug die Mutter (Übersetzung aus dem Schwäbischen):

»Und dann war da so eine junge Frau, in Uniform, so eine hübsche, so eine ganz adrette. So eine Dunkle. Ich glaub, das war eine Türkin. Jedenfalls sagt die, ich soll mal meine Tasche auspacken. Und dann sieht die die Flasche mit dem Wasser, und die hab ich ja ganz vergessen gehabt.

Dann hab ich der das erklärt, dass ich halt die Flasche noch wegen meiner Enkelin dabei hab, wir sind ja gerade davor noch auf dem Spielplatz gewesen, und dass ich das einfach vergessen gehabt hab, und dann hab ich schon gedacht gehabt, die lassen mich gar nicht mehr mit, und ihr seid ja schon wieder weg gewesen, und ich hab mich schon wieder im Taxi gesehen, dass ich wieder zu euch fahr, was einem halt so durch den Kopf geht. – Und dann guckt die mich an, und ich rede auf die ein, und dann sagt die zu mir: Sprechen Sie Deutsch?«

Hey, Cern!

(bb) So lange dieses kleine dunkle Loch da unten knapp über der Fußleiste, so lange dieses kleine dunkle Loch exakt so groß, also so klein bleibt wie es jetzt ist, so lange, also so lange will ich ja nichts sagen.

Gespräch mit Kollegen

»Ohne Alkohol hätte ich mich längst umgebracht.« – »Und ich wäre ohne Alkohol gar nicht geboren!« (Uli Hannemann)

Bildungshuber

(bb) »Heine kommentiert außenpolitische Themen. 1980 ließ er sich als IM ›Heinrich‹ von der Stasi verpflichten und ging 1987 für die Berliner Zeitung nach Moskau.«

Diese Kommunisten immer mit ihrem Kanon. Heinrich, haha! Im Westen hätte man den IM ›Helme‹ getauft.

Etymologie

Jedes Mal, wenn ich auf der A2 kurz hinter Helmstedt den Parkplatz »Waldkater« passiere, rätsle ich über die Herkunft dieses Namens. Ich tippe ganz stark auf eine Berufskrankheit von Förstern. (Volker Surmann)

Löcher in den Bauch fragen

Ich hatte nicht bemerkt, dass mich das Kind in der U-Bahn wohl schon länger anstarrte. Gleich mußte ich umsteigen und klappte daher mein Buch zu, Schloß Gripsholm, Balsam für das innere Ohr. War es ein Junge oder ein Mädchen? War er zehn oder sie sieben? Und was bewegte es, mir jetzt unvermindert in die Augen zu starren? Ich stand auf und ging Richtung Tür, Kind und Mutter vor mir, die ebenfalls aussteigen wollten. Ich sah einen Zopf unter der Mütze hervorkommen, also wohl doch ein Mädchen. »Mama?«, sie zog ihr am Ärmel, die Mutter sah sie an. »Kannst DU eigentlich lesen?« (Frank Sorge)

In einem Marken-Shop in Mitte

Ich: »Ich möchte diese Schuhe reklamieren. Links geht vorne die Sohle ab, rechts löst sich das Innenfutter am Hacken.«

Verkäuferin (vorwurfsvoll): »Das passiert, wenn man immer von oben in den Schuh einsteigt.«

Frage mich seitdem, von wo ich sonst in den Schuh einsteigen soll.

Verkäuferin: »Wir tauschen auch nur Ware gegen Ware um oder gegen Gutschein. Geld zurück gibt es bei uns nicht.«

Ich: »Ja, ist denn das rechtmäßig?«

Verkäuferin: »Keine Ahnung, es gibt da aber öfter Diskussionen mit den Kunden.« (Volker Surmann)

Krummlegen

(jw) Richtig Wirtschaftskrise ist doch erst dann, wenn man auf den Straßen der Stadt dicke schwarze Limousinen mit einem verschämt aufgesteckten ›Pizza-Max‹-Fähnchen rumfahren sieht. Wenn also der echte Wohlstandbürger, um sich seine übermotorisierte Kiste weiterhin leisten zu können, nach Feierabend tatsächlich auch auf ein Zubrot als Pizzabote angewiesen ist.

Noahs Bruder?

Wenn manche Zeuginnen und Zeugen Jehovas und manche Kreationisten und Kreationistinnen tatsächlich glauben, dass allerlei Tierarten vor einer großen Flut auf einem Holzboot gerettet wurden, müsste es dann nicht auch den Glauben an eine Arche für Gemüse geben? Oder wie wurden all die Melonen, Kürbisse, Gurken und Strauchtomaten vorm Untergang bewahrt? Wenn ich nicht schlafen kann, liste ich gerne alle Gemüse auf, die mir einfallen und vergesse auch die Bedecktsamer nicht. (Anselm Neft)

Was die BVG an U-Bahnhöfen immer wieder falsch macht

Die beste Garantie, schnell an die neusten Graffitis zu kommen, ist immer noch ein Schild »frisch gestrichen«. (Volker Surmann)

Wunderlich werden

Auf einmal ertappe ich mich dabei, wie ich beim Überfliegen der Todesanzeigen im Tagesspiegel vom Wochenende murmle: »Alle tot. Alle, alle tot …« (Uli Hannemann)

Demenzkranke sollen Langzeitarbeitslose betreuen

(bb) Unterstützung für das überlastete Personal der Bundesagentur für Arbeit: Pflegeheime wollen mehrere tausend Demenzkranke für einen Job in den Arbeitsagenturen vermitteln. Die neuen Arbeitskräfte sollen als Assistenten Langzeitarbeitslose betreuen.

Berufsziel

Irgendwann möchte ich mich auch gerne mal als »der labile Exzentriker« beschrieben sehen. Das wäre ein Freibrief für praktisch alles. (Uli Hannemann)