Ahne: 9. November 1989

»Was haben sie eigentlich am 9. November 1989 gemacht?« Jedem Ostdeutschen wird diese Frage gestellt. Gregor Gysi, Katarina Witt, Helga Hahnemann posthum, den Puhdys, Pittiplatsch, sogar der Moderatorin Sarah Kuttner, obwohl die 1989 noch gar nicht geboren war, fast. Da das den Rest der Welt scheinbar unglaublich zu interessieren scheint, habe auch ich beschlossen zu erzählen, was sich bei mir so abgespielt hat, am 9. November 1989. Hier meine Erinnerungen.

9. November 1989. Es ist ganz früh morgens. Ich bin von der Arbeit nach Hause gekommen. Genauer gesagt ich bin gefahren. Verrückterweise mit der S-Bahn, von Berlin-Ostbahnhof nach Berlin-Karlshorst. Ich hatte Nachtschicht gehabt in der DDR-Staatsdruckerei Neues Deutschland, wo ich mir wie stets Mühe gab, jenen dort gedruckten überregional erscheinenden Tageszeitungen meinen ganz persönlichen Stempel aufzudrücken. Ich hatte ja ein spezielles Faible für Ernteergebnisse und besaß die Unverfrorenheit, heute kann man das ja sagen, ist ja verjährt, seitenlange Ergüsse zu diesem Thema einfach da hineinzuredigieren und stattdessen die von der Staats- und Parteiführung gewünschten regimekritischen Essays zu entfernen. Ist damals scheinbar niemandem weiter aufgefallen, wahrscheinlich weil alle, die im System was zu sagen hatten, gar keine Tageszeitungen lasen. Sie begnügten sich mit wissenschaftlichen Standardwerken wie der Frösi, dem Modelleisenbahner oder den gesammelten Ausgaben der Klinischen Medizin.

Vielleicht ist auch dadurch erst die Entfremdung von Volk und Parteispitze zustande gekommen. Hätten sie mal auf mich gehört und ausschließlich Ernteergebnisse veröffentlicht, ich glaube, wir hätten den Systemwettstreit mit dem Westen haushoch gewonnen. Doch das Rad der Geschichte lässt sich nun mal nicht zurückdrehen, dis könnt ihr mir glauben, ich hab dis schon versucht. Sei es drum.

Bin ich da also mit der S-Bahn nach Hause. Früh. Ohne Fahrschein. Kann man jetzt ja sagen, ist ja verjährt. Außerdem war das Bezahlen von Öffentlichen Verkehrsmitteln in der DDR ja freiwillig. Kontrolliert wurde lediglich, ob man sich ordentlich die Zähne geputzt hatte. Hatte ich aber auch nicht. Ich war eine Art Rebell.

Vom S-Bahnhof musste ich noch circa 20 Minuten durch den dunklen Wald laufen, bis zu mir nach Hause hin. Das war natürlich kein Zuckerschlecken. Öfter knurrten im Gebüsch hungrige Kaninchen. Es gab ja sehr selten nur Mohrrüben in der DDR, dafür aber viele giftige Pilze, die mich mit einschmeichelnden Melodien versuchten, vom rechten Wege abzubringen. Doch mit Hilfe von Kompass, Nadel und Faden, sowie einer gehörigen Portion Mutterwitz im Leib schaffte ich es doch ein jedes Mal. Es war nicht alles schlecht.

Daheime angekommen hab ich dann erst mal, wie stets, den Fernseher angemacht, mich in den Sessel plumpsen lassen und Testbild geguckt. Ich hatte so eine Ahnung, dass es irgendwann auch schon um diese Zeit Programm geben würde, in der Glotze, und darauf wartete ich unverdrossen. Es muss so gegen halb acht am Vormittag des 9. Novembers 1989 gewesen sein, als ich plötzlich einnickte. Ich träumte unruhig von Pornos – kann man ja jetzt sagen, ist ja verjährt – und Schrippen, in denen mehr Luft als Teig war. Heute weiß ich, dass dis an dem Sessel gelegen haben muss. Er war aus billigem Kunststoff hergestellt, so wie alles in der DDR aus billigem Kunststoff hergestellt war. Für teuren Kunststoff hatte man einfach keine Devisen. Man hatte ja eigentlich überhaupt keine Devisen, bis vielleicht auf die Devise ›Alles zum Wohle des Volkes‹, die Bertolt Brecht der SED mal zur Einschulung geschenkt hatte. Sonst hatte man einfach nichts, jedenfalls symbolisch gesehen.

So gegen 13 Uhr muss ich dann wieder aufgewacht sein und hab erst mal höllisch geflucht. Mir ist da nämlich eingefallen, dass wir ja um 12 ein Treffen vom Neuen Forum in der Zahnarztpraxis bei Dr. Gottschalk hatten. In der Heiligenberger Straße. Da wollten wir doch einen neuen Rechenschaftsbericht ausformulieren, in dem zum ersten Mal überhaupt das Wort ›Sowjetunion‹ nicht drin vorkam. Heimlich natürlich, denn die Stasi hatte uns sicherlich schon auf dem Kieker. Ich wusste damals noch nicht, dass eigentlich alle außer ich – im Grunde genommen aber auch ich – selbst bei der Stasi waren, heimlich. Der zweite Grund für den Untergang der DDR. Niemand wusste vom andern, dass der bei der Stasi ist. Hätte man das gewusst, hätte man gewusst, dass jeder Bürger der DDR gleichzeitig auch bei der Stasi ist, man hätte doch völlig das Misstrauen verloren, die Angst, man hätte mit ganzer Kraft den Karren aus dem Dreck ziehen können. So aber bespitzelte der eine Stasi-Agent den anderen und der Klassenfeind an Rhein und Ruhr lachte sich derweil wie verrückt ins Fäustchen. Na, wichtig für nächstes Mal: Immer offen und ehrlich sein.

Ich hab mir dann jedenfalls Mittagessen gekocht. Brot mit Radieschen. Wir hatten ja einen Garten, damals. Deswegen mussten wir auch nicht in den Gemüseersatzläden stundenlang nach Radieschenersatz anstehen. Das wird heute gerne verklärt mit der Wärme und dem Zusammenhalt in der DDR. Die Wärme und der Zusammenhalt, das kam ja nur, weil man beim Schlangestehen immer so dicht an den Vordermann heranrückte, damit man sich zumindest einbilden konnte, es ginge vorwärts. In Wirklichkeit ging es natürlich nur vorwärts, wenn jemand verzweifelt aufgab, sich anschickte nach Hause zu gehen, um sich dort weiter gewissenhaft aufs Parteilehrjahr vorzubereiten. Na, wie gesagt, wir hatten einen Garten und brauchten deshalb weder Zusammenhalt noch Wärme. Is so!

Etwa gegen 18 Uhr war ich mit meinem Radieschenbrot fertig und probierte nun vor dem Spiegel meine neue Kunstlederjacke an, denn um 19 Uhr war ja wie jeden Tag Demonstration, von der Gethsemanekirche aus – an den Tribünen auf der Karl-Marx-Allee vorbei, wo wir dem Zentralkomitee enthusiastisch zuwinkten – bis hin zum Alexanderplatz. Da musste man selbstverständlich schick aussehen auf der Demonstration. Leute, die nicht schick aussahen, wurden oft verhaftet, das wussten wir ja. Die mussten dann immer mit aufs Revier, Keibelstraße, wo sie wieder und wieder auf ihre Pflichten als Stasi-Spitzel aufmerksam gemacht wurden.

Am 9. November 1989 war es aber wie immer sehr schön auf der Demonstration. Man traf Freunde und Egon Krenz lächelte. Die Knüppel der Volkspolizisten waren ja damals auch noch nicht so hart wie heute. Ich ließ meinen Rücken ganz gerne von ihnen massieren und auch die Dusche, für die der polnische Ersatzwasserwerfer sorgte, war angenehm. Eine willkommene Abkühlung. Es war nämlich, da erinnere ich mich, als sei es erst gestern passiert, ein ungewöhnlich heißer Herbsttag gewesen, dieser 9. November 1989.

Ich bin dann von der Demo direkt und auf schnellstem Wege über den Weihnachtsmarkt wieder zur Arbeit hin; hab noch zwei, drei Currywürste gegessen und stand pünktlich 22 Uhr, wie ich es bei der Armee gelernt hatte, an meiner Maschine, wo gerade jemand bekannt gab, sie hätten soeben die Mauer aufgemacht. Mein erster Drucker, Schmidde, hat daraufhin den Spachtel ergriffen und ordentlich die Farbe umgerührt. Schmidde war Sachse und trug einen dicken Bart.

Am Morgen des 10. Novembers bin ich wieder nach Hause gefahren. Wieder mit der S-Bahn. Die war da voller als sonst. Blieb sie auch noch ein paar Wochen.