Michael Ebeling: Der Neandertaler in mir lebt, aber er ist inzwischen ein verwöhntes Arschloch geworden

»Ihr Zwerchfell ist verspannt, und Ihre Leber ist hart, Herr Ebeling.« Da ich gerade nicht atmen kann, sage ich nichts. Nach einer Weile zieht meine Physiotherapeutin ihre Fäuste aus meinem Bauch raus. Auf der einen Faust ist der Name »Vitali« eintätowiert, auf der anderen »Wladimir«. Sie hatte sie beide mühelos in meinem Ranzen verschwinden lassen können, wo sie mit ihnen meine inneren Organe abgetastet hatte. Jetzt bekomme ich wieder Luft und frage, wie das denn komme mit dem verspannten Zwerchfell? Sie druckst ein bisschen rum und nuschelt was von zu wenig Bauchatmung, falscher Körperhaltung und… – sie macht eine Pause, als müsse sie nachdenken. »Naja«, sagt sie bedächtig, »Ihr Bäuchlein zerrt da natürlich auch immer mit dran rum.« Ihre Mundwinkel zucken verräterisch.

»Von wegen Bäuchlein«, zische ich vorwurfsvoll, »Sie meinen sicher meine mischhäutige Mastwampe, meinen adipösen Tresenturnbeutel, die Fettgarage zwischen Brust- und Geschlechtswarzen.«

»Also, Herr Ebeling!«, grinst sie jetzt unverhohlen. »Das haben Sie gesagt! Aber ein bisschen weniger würde Ihrer Gesundheit sicher gut tun.«

Als ich die Praxis verließ, fühlte ich zunächst einen Impuls niedrigsten Instinkts. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich an allen Imbissbuden entlang meines Heimwegs eine Portion Doppelpommes mit Mayo in mich reinstopfen sollte. So als Schlusspunkt ungesunden Essens in Form einer Konfrontationstherapie. Dazu Büchsenbier. Und zu Hause dann mit quälenden Leibschmerzen, halbbesoffen und unter Zuhilfenahme von Selbstmitleid verzweifelt gegen den Weltschmerz anonanieren.

Aber ich besann mich eines Besseren und lenkte mein treues Herrenrad Richtung Ackerhalle. Dort machte ich einen ungewöhnlichen Großeinkauf. Ich erinnerte mich nämlich eines Buches, das ich schon ein paar Mal gelesen hatte. Es ging dabei um die so genannte Rohkosttherapie. Man durfte alles essen, aber eben nur roh.

Als ich zu Hause ankam, räumte ich den Küchentisch leer, zog ihn in voller Länge aus und arrangierte meine makrobiotischen Mitbringsel auf der fettfreien Festtafel. Einen Apfel, eine Birne, eine Weintraube, ein rohes Ei auf einer Untertasse, ein Salatblatt, eine Kirsche, eine Avocado, eine Banane, eine Tomate, eine Walnuss, eine Erbse, eine Melone, einen Sonnenblumenkern, eine Zwiebel und ein rohes Kotelett. Den Karpfen tat ich in einen Eimer, wo er noch ein bisschen schwimmen sollte.

Das Ritual sah vor, mit schnupperndem Näschen, und am besten mit geschlossenen Augen, um den Tisch zu schleichen und nach Geruch, also Instinkt, exakt das natürliche und nicht degenerierte Nahrungsmittel auszusuchen, dessen Geruch mir Appetit macht. Der Instinkt irre sich nicht, sagte das Buch. Er müsse nur erst unter dem Müllberg falscher Erinnerungen – entstanden durch die vielen falschen Freunde aus der Lebensmittelindustrie – hervorgeholt werden. Der Mensch, so das Credo des Buches, ist nicht für gekochte, gebratene oder sonstwie denaturierte Nahrung geschaffen. Beim Braten von Kartoffeln – noch schlimmer beim Frittieren von Pommes – entstehen Tausende von Molekülen, die in der freien Natur so gar nicht vorkommen. Diese kann der Körper nicht erkennen, geschweige denn verarbeiten. Und so würden diese Moleküle im Körper verbleiben und diesen krank machen. Wobei Übergewicht noch eines der harmloseren der dabei entstehenden Übel sei.

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Auf jeden Fall, so lehrte das Buch, wenn man sich nur von Rohkost und Wasser ernähre, fände man sehr schnell zu seinem Idealgewicht und würde an Körper und Geist – also ganzheitlich – erstarken. Ich hatte jedoch starken Hunger. Ich trat an den Tisch, schloss die Augen und begann zu schnuppern. Nichts. Ich roch überhaupt nichts. Dann griff ich nach einem Messer und zerschnitt alle Früchte der Ackerhalle, damit die Aromen besser entweichen konnten. Schon besser. Augen zu und ran an den Tisch. Auf Tisch reimt sich Fisch. Ich erinnerte mich, dass die Japaner gerne rohen Fisch essen. Je frischer, desto besser. Manchmal wird der Fisch von den Japanern auch direkt am Tisch geschlachtet. Ich schielte zu dem Eimer. Ich würde mir einfach mal ein Stückchen Fisch aus dem Fisch reißen. Mit meinen Zähnen. Wie ein echter, gesunder, von seinen unverdorbenen Instinkten geleiteter Neandertaler.

Als ich mich nach einigem Zögern – man muss so einem Tier bloß mal in die Augen schauen – endlich im Karpfen verbissen hatte, war der Eimer fast leer, ich pitschnass und der Karpfen putzmunter. Mit seiner Schwanzflosse knallte er mir links und rechts je eine, die sich gewaschen hatte. Die Neandertaler haben sich sicher nicht gewaschen, damit sie sich am Geruch erkennen konnten. Namen hatten die ja keine. Nachdem ich den Karpfen zurück in den Eimer hatte fallen lassen, sah der mich vorwurfsvoll an, und ich hatte den Mund voller Schuppen. Die waren zwar auch roh, aber die wollte ich trotzdem nicht essen. Das wäre sicher was für Fortgeschrittene. Ich spülte mir den Mund aus und gab dem tapferen Fischlein neues Wasser. Vielleicht sollte ich ihn einfach am nächsten Tag zurückbringen. Und wenn die den nicht zurücknehmen, weil schon ein kleines Stück fehlt, dann kommt er eben ins Tierheim. Jetzt stellte ich ihn erst mal ins Bad. Da konnte er in Ruhe über alles nachdenken.

Ich ging zurück zum Tisch, um es erneut zu versuchen. Alle meine Sinne waren nun aufs Äußerste sensibilisiert. Ich schloss die Augen. Ich hörte sie jetzt förmlich singen, die ganzen rohen Köstlichkeiten. Und ich fühlte die Schwingungen ihrer feinstofflichen, natürlichen Moleküle. Das Göttliche der Nahrung offenbarte sich mir. Und jetzt klappte es auch mit dem Instinkt. Ein Duft hatte sich in meiner Nase festgesetzt. Ich schaltete alles bewusste Wollen ab. Ja, das war mein Duft, mein Nahrungsmittel. Ich hatte meine Instinkte wieder. Ich war auf dem richtigen Weg. Ich konnte jetzt direkt auf den Duft, meinen Duft, zugehen. Der Neandertaler in mir war zum Leben erwacht. Wir schritten gemeinsam durch die Pforte göttlicher Bewusst- und Gewissheit Richtung Paradies. Wir verschmolzen zu einem Lichtwesen von unbestechlicher Klarheit.

»Autsch!« Ich hatte mich an etwas gestoßen. Ich öffnete meine Augen, um aus meiner Trance, die mich in die Tiefen meiner wahren inneren Bedürfnisse geführt hatte, zu erwachen. Ich öffnete die Augen, um zu schauen, welche der vielen hier versammelten Früchte meinem inneren Freund neues Leben einzuhauchen vermocht hatte.

Ich stand am geöffneten Fenster. Dieser himmlische Duft kam von schräg unter mir. Direkt aus dem Küchenfenster von Frau Dill. Na hoppla. Ich verstand. Es war Donnertag. Da gab es bei ihr immer Rostbrätl mit Mischgemüse. Dazu dicke braune Soße mit Speckchampignons. Ich atmete tief ein. »Aaaaa!« Ich schnappte mir meine Mülltüte, schmiss das ganze degenerierte und substanzlose Zuchtgemüse aus Holland, Lolland und Bolland hinein, spülte den Karpfen in der Kloschüssel runter, flitzte ein Stockwerk tiefer und klingelte bei Frau Dill. Die steckte neugierig ihren Kopf durch die Tür. »Tach, Frau Dill«, sagte ich listig, »ich bringe gerade meinen Müll runter. Soll ich da vielleicht ihren gleich mitnehmen?« »Das ist ganz lieb, Herr Ebeling, aber ich hab grad Essen fertig. Für zwei wird’s wohl reichen. Wollen Sie vielleicht einen Teller gute, kräftige Hausmannskost, bevor Sie den schweren Müll runterschleppen?«

»Aber das wäre doch nicht nötig gewesen«, tat ich noch der Höflichkeit Genüge, ehe ich meine protestantische Pizzapagode unterm Polyätylen-Poncho an Frau Dills Küchentisch bugsierte…