Andreas Scheffler: Ich und Kinder?

Ich habe bereits ein Haus gebaut, eines aus Holz zwar, aber ein weiteres, diesmal aus Stein, habe ich in Angriff genommen. In zwanzig Jahren etwa wird es wohl fertig sein. Ich habe auch schon einen Baum gepflanzt, zum Missfallen meines Nachbarn eine Erle, die für ihn nichts als Unkraut ist. Ich werde in nächster Zukunft noch mehrere Bäume pflanzen. Süßkirsche und Birne. Ein Kind gezeugt habe ich höchstwahrscheinlich noch nicht. Ich weiß zwar, wie das geht, aber nur weil man es kann, muss man es ja nicht gleich auch machen. Sehr wahrscheinlich werde ich kein Kind mehr zeugen und dafür sollten mir alle dankbar sein; sowohl die Kinder, wie auch das Gemeinwesen als Ganzes. Meine Erziehung würde die Kinder verwirren. Eine Mischung aus autoritärer Strenge und grenzenlosem laissez faire. Ein Hin und Her zwischen dem Stil meiner Eltern und dem, was ich mir als Kind gewünscht habe.

Diesem Hin und Her waren mein zehnjähriger Neffe und meine acht Jahre alte Nichte für einige Tage ausgesetzt. Weil die Eltern fort mussten, wurden die Kinder der Obhut ihrer Großeltern sowie der Onkel und Tante überlassen. Also Menschen, die ständig von sich und ihren Enkelkindern in der dritten Person gesprochen haben: »Omma hat«, »Oppa hat«, »Claudia soll aber«, »Daniel muss jetzt«… – und Sabine und mir, die »ich« und »du« gesagt haben.

Die erste Nacht, bevor es mit dem Hirtenjob ernst werden sollte, war im Gütersloher Gästezimmer aufgrund Erkältungserscheinungen – verstopfte Nasen und die daraus folgenden Geräusche – bei Sabine und mir annähernd schlaflos verlaufen. Um halb sieben steht Sabine auf und geht zum Spielen ins Nebenzimmer zu den früh erwachten Kindern. Ich versuche endlich Schlaf zu finden. Wenigstens bis zehn. Doch jedes Mal, wenn ich kurz davor bin einzuschlummern, verstellt mir ein schrecklicher Krach das Tor. Mal plumpst ein Kind vom Rücken der ein buckliges Pferd mimenden Gattin lautstark auf den Fußboden, auch Türen werden grundsätzlich geknallt, dann geht die Lokusspülung los und zu guter Letzt dröhnt ein Potpourri der beliebtesten Techno-Beats, gespielt auf Lichtschaltern und verstärkt durchs Mauerwerk, in meinen Schädel.

Ich stecke auf und lasse mich aus dem Bett fallen. Die Frühstückszigarette nehme ich bei minus drei Grad auf dem Balkon ein. Wegen meiner zitternden Hände funktioniert die gewöhnliche Zahnbürste nun wie eine elektrische. Beim Spülen fällt mir eine meiner provisorischen Kronen heraus. Dieser Elektrische-Zahnbürsten-Scheiß ist doch Käse! Die Kinder treffen kurz nach mir im Esszimmer ein und werden von den Großeltern gefragt, ob sie sich auch gewaschen hätten. Sie winden sich und ich sage: »Macht nichts.« Ich hätte mich auch nicht gewaschen; schließlich werde man in der Regel beim Schlafen nicht schmutzig. Großmutter schaut mich vorwurfsvoll an, sagt aber erstaunlicherweise nichts weiter dazu. Nun geht das Drama mit dem Essen los. In Westfalen werden Menschen bewundert und hoch geachtet, wenn sie sehr viel essen. Sich noch mal nach zu nehmen, ist obligatorisch. In Gaststätten und Restaurants gilt das Motto »Lieber den Magen verrenken, als dem Wirt was schenken«. Gleichzeitig sind sehr dicke Menschen nicht gut beleumundet. – Ein Paradoxon, das wohl nur ein alteingesessener Westfale lösen könnte, wenn er sich die Mühe machen würde.

Klein Claudia hat inzwischen ein halbes Brot mit Nutella aufgegessen und ist satt. Das kann Omma nicht zufrieden stellen. »Guck mal, Omma macht Claudia noch’n Bütterken mit Leberwurst.« – »Nein, ich bin satt.« – »Ach, das kannste wohl noch. Claudia muss doch noch wachsen.« Daniel bemerkt nebenbei, dass Oppas Frühstücksei stinke. Er verliebt sich in den Gedanken und ständig bricht es aus ihm heraus: »Das Ei stinkt.« Ich sitze daneben und grinse. Am Frühstück beteilige ich mich nicht. Ich frühstücke nie. Stattdessen hocke ich vor einem Glas Apfelsaft, denn vor dem ersten Bier möchte ich eine solide Grundlage haben. Daniel sagt unterdessen zum etwa achten Mal, dass Oppas Ei stinke. Mein Vater reißt sich erstaunlich zusammen. Ich hätte früher schon längst eine gescheuert bekommen. Seine Stimme hebt sich nur unerheblich, als er anmerkt, dass man beim Essen ernst zu sein habe.

Illustration: Flix

Anschließend: Zeitung lesen. Ich referiere gegenüber Sabine die Randmeldungen. Ein Unternehmer wollte in Gütersloh einen Puff aufmachen und hat nun nach zwei Jahren Suche aufgesteckt, weil ihm keiner ein Grundstück verkaufen wollte. »Was ist ein Puff?«, fragt Daniel, während Omma ihre Nase ins Esszimmer hält und böse guckt. »Öh«, sage ich, »da gehen Leute hin, die ganz alleine sind und niemanden zum Kuscheln haben. Und im Puff können sie dann für Geld mit jemandem ganz Fremden kuscheln. Besser als nix.« Claudia kommt aus dem Wintergarten. »Kuscheln? Olli Geissen sagt da immer poppen zu.« Omma ist einer Ohnmacht nahe.

Ich gehe erst mal vor’s Haus eine rauchen. Daniel kommt mit. Wenn er mich jetzt nach einer Zigarette fragen würde; ich würde ihm sagen, dass das gar nicht gesund sei und er solle mich doch mal angucken, ob er so werden möchte wie ich… – mal ganz im Ernst; wenn er dann sagen würde: »Ja, will ich«; vielleicht würde ich ihm eine geben. Als Abschreckung, wenn er dann so richtig husten muss. Aber er fragt nicht. Meine Bruder und meine Schwägerin machen das schon richtig. Mit der Erziehung. Aber ich? – Ich kann das nicht.