Jochen Schmidt: Feriendienst

Wenn sich auch sonst kaum noch jemand bei mir meldete, in den Ferien entsannen sich meine Bekannten plötzlich wieder meiner. Es hatte sich herumgesprochen, dass ich mich nie entscheiden konnte, wohin ich in den Urlaub fahren sollte, und deshalb die meiste Zeit zu Hause blieb, ich stand also für bestimmte Aufgaben zur Verfügung. Zuerst gab mir mein Bruder seinen Schlüssel, er fuhr vier Wochen nach Brasilien und ich sollte seine Pflanzen gießen, die Ziertomaten auf dem Balkon bräuchten alle drei Tage Wasser. Damit, dass ich zum Dank dafür ja bei ihm fernsehen könne, hatte er allerdings zuviel versprochen, weil sein Gerät so modern war, dass es mir nicht gelangt, es anzuschalten, und keine der sechs herumliegenden Fernbedienungen ließ sich ihm eindeutig zuordnen. Musik ging auch nicht, der CD-Player war so ein teures Gerät, dass es gar keinen Knopf mehr hatte, vielleicht spielte er die Musik in seinem Innern nur für sich, weil sie sonst von den Ohren der Zuhörer verfälscht wurde.

Weil sie gar nicht weit voneinander wohnten, war es nicht zu viel von mir verlangt, wenn ich, einmal unterwegs zu meinem Bruder, auch gleich bei meiner Schwester den Briefkasten leerte – sie war mit ihrem Freund aufs Dorf gefahren. Es kam zwar nur Werbepost, aber wenn der Kasten überquoll, würden die Einbrecher aufmerksam. Ich verband also beides und fuhr erst zu meinem Bruder und dann zu meiner Schwester. Auch bei ihr konnte ich keine Musik hören, weil ihr Freund ausschließlich Frank-Zappa-CDs kaufte. Und fernsehen ging nicht, weil sie, seit der Geburt ihres Sohns, ihren Fernseher abgeschafft hatte, sie fürchtete, ihr Kind könnte unsozial werden. Außerdem trank sie keinen Kaffee, es gab nur grünen Tee. Die Blumen musste ich nicht gießen, nur ab und zu den Wasserkanister für ihre automatische Bewässerungsanlage nachfüllen.

Meinem Freund Basti konnte ich nicht abschlagen, mich um sein Aquarium zu kümmern, während er ein halbes Jahr zum Erasmus-Stipendium nach Krakau ging. Er hatte keine Fische, sondern einen Molch. Wir hatten das Tier noch nie gesehen, tagsüber verkroch es sich in einer alten Playmobilburg, die ihm im Wasser als Unterschlupf diente. Der Molch musste jeden zweiten Tag gefüttert werden, anschließend sollte ich mich noch eine Weile in der Wohnung aufhalten und Geräusche machen, damit er Gesellschaft hatte. Er war zwar nie zu sehen, aber er vertrug es nicht, allein zu sein. Ich wusste nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte.

Weil er die Geräusche gehört hatte, mit denen ich versuchte den Molch aufzumuntern, klingelte Bastis alkoholabhängiger Nachbar, der ihm manchmal Quarkstullen brachte, wenn er einsam war. Nachdem ich einmal geöffnet hatte, kam er jedes Mal, wenn ich den Molch fütterte. Es dauerte so lange, ihn wieder loszuwerden, dass ich meine Tour aufteilen musste, ich fuhr also jeden zweiten Tag zu Basti und an den anderen Tagen zu meinem Bruder und meiner Schwester, und weil ich nun schon einmal in Berlin geblieben war, übernahm ich auch noch die Post von Bine, Kathrin, Jasmin und ein paar anderen Bekannten und sah in ihren Wohnungen nach dem Rechten. Falls ich einmal umziehen wollte, musste ich mich mit allen gut stellen. In Wirklichkeit hätte ich mich nie entschließen können, umzuziehen, und half nur immer bei den anderen. Viele, die mir noch einen Umzug schuldeten, wohnten auch schon nicht mehr in Berlin. Ich hätte in ihre Städte ziehen müssen, um in den Genuss des mir zustehenden Gefallens zu kommen.

Den meisten, bei denen ich den Briefkasten leerte, schrieb gar keiner, sie bekamen nur Werbung und ich hatte das Gefühl, meine Zeit zu verschwenden. Es war ein großer Tag, als Basti endlich Post bekam, eine Urlaubskarte von Biene aus Kroatien. Bald darauf erhielt auch Biene eine Karte von Basti aus Krakau, ich war also nicht umsonst zu Hause geblieben.

Ich hatte inzwischen jeden Tag eine Tour zu machen, die Zeit reichte kaum noch, mich allen Aufgaben so eingehend wie nötig zu widmen. Ich musste den Molch manchmal drei Tage warten lassen, und die Ziertomaten machten mir Sorgen, weil es sehr heiß war. Ich hätte einen Mitarbeiter anstellen müssen, aber das konnte ich mir nicht leisten. Dann wollte auch noch Falko, dass ich, während er ein New-York-Stipendium wahrnahm, einmal in der Woche seinen Trabant startete, damit der Motor nicht einrostete. Ich durfte allerdings nicht damit auf die Straße, weil das Auto nicht angemeldet war. Es ging nur darum, einmal alles durchzupusten, damit wieder Öl an die Kolben kam. Damit war es mir schon rein zeitlich nicht mehr möglich, jede Nacht zu Hause zu verbringen. Im Grunde war mir das aber ganz recht, weil eine französische Bekannte ganz kurzfristig eine Unterkunft für zwei amerikanische Freunde gesucht hatte, und da ich sowieso die meiste Zeit unterwegs war, bot ich ihr an, die beiden bei mir schlafen zu lassen. Ich musste nur ab und zu vorbeikommen, um meine Pflanzen zu gießen, weil die Amerikaner das vergessen würden, hatte sie mich gewarnt.

Es war ja ein heißer Sommer, so dass es mir nichts ausmachte, im Park zu schlafen, immer in der Gegend von meinem letzten Termin. In meiner Hosentasche trug ich inzwischen ein riesiges Schlüsselbund. Ich stellte den Wecker auf sechs Uhr morgens und begann ohne viel zu trödeln meine Tour, um bis zum Abend möglichst viel zu schaffen. Etwas schwer tat ich mich, alle drei Tage mit Violetta zu schlafen, der Freundin von meinem Kumpel Jörn, der zu Fuß unterwegs nach Nepal war. Weil sie ihn in seiner Abwesenheit jedes Mal betrog, war es ihm lieber, wenn er wusste, mit wem sie sich amüsierte. Alle drei Tage war das mindeste, um das Risiko eines Seitensprungs zu vermindern, aber es musste ihr natürlich auch gefallen. Ich bekam dauernd besorgte SMS von Jörn, ob auch alles klarging, es war nicht einfach, ihn zu beruhigen, er war sehr misstrauisch.

Die winzigen Ziertomaten reiften heran, der Molch war guter Dinge, ich merkte es an seinem Appetit, gesehen hatte ich ihn ja noch nie. Sogar Bastis Nachbar blühte richtig auf, er hatte schon lange nicht mehr so regelmäßigen Kontakt zu anderen Menschen gehabt. Aber als ich es einmal eine Woche nicht zu meiner Schwester geschafft hatte, quoll ihr Briefkasten von der Werbung über, und als ich nun bei ihr eintraf, überraschte ich eine Gruppe Einbrecher, die gerade dabei waren, ihre Wohnung auszuräumen. Sie zertrümmerten mir mit einem Brecheisen den Arm, und ich musste ins Krankenhaus. Bei der ersten Gelegenheit türmte ich von der Station, weil ich in dieser Woche noch Falkos Trabant anlassen musste und schon vier Tage nicht mit Violetta geschlafen hatte. Trotz Gipsverband nahm ich wieder meinen Aushilfsjob beim Grünflächenamt an, mit dem ich mir mein Studium finanziert hatte. Es dauerte ein bisschen, bis ich mit der linken Hand mit Hacke und Gartenschere klarkam, aber ich brauchte das Geld, um die Wertgegenstände, die die Einbrecher bei meiner Schwester geklaut hatten, zu ersetzen, damit sie nicht merkte, dass ich meine Aufgaben vernachlässigt hatte. So langsam wuchs mir das alles über den Kopf und ich sehnte das Ende der Urlaubszeit herbei. Die Amerikaner hatten meine Wohnung an mexikanische Freunde weiterempfohlen, die sie in irgendeinem Youth Hostel kennen gelernt hatten und die mir nicht öffneten, weil sie mich für einen Zivilbullen hielten. Ich muss wohl demnächst bei mir einbrechen, um meine Pflanzen zu retten, aber im Moment habe ich anderes im Kopf: der Molch, der Trabant, die Ziertomaten, zwei Dutzend Briefkästen und Violetta. Inzwischen haben fast alle meiner Bekannten sich schon gegenseitig Urlaubskarten geschrieben, es geht ihnen gut. Manchmal wünsche ich mir mein altes Leben zurück, aber dann denke ich, dass man die Dinge so nehmen muss, wie sie kommen, man wächst mit seinen Aufgaben. Man darf nicht immer danach fragen, ob sich eine Gefälligkeit für einen auch auszahlen wird.