Kurznachrichten: Zeichen, Zeiten, Tage und Wunder

Geplättet

(Bov Bjerg) Bettina mahnte seinerzeit, den Kopf des Kindes auch immer schön auf die Seite zu legen, um dem berüchtigten polnischen Hinterkopf (Westerplatte) vorzubeugen.

Wie recht sie hatte! Sehe jetzt immer wieder Kinder mit einem Kopf wie ein Flachbildschirm. Stecke Eltern, die einsichtsfähig wirken, Zettelchen zu: »Legen Sie Ihr Kind doch bitte auf die Seite! Das sieht auch nicht niedlich aus!«

Bei Eltern, die nicht einsichtsfähig wirken, klemm ich im Vorbeigehen an den Kinderwagen einen knallbunten Flyer (A7): »Bock auf neues Display? Ab 19 Zoll nehmen wir ihr altes in Zahlung!«

Terakotta-Armee

Meine Eltern waren mit Kolping-Reisen in China. Sie sagen, der Bauer, der die Terakotta-Armee des ersten Kaisers von China 1974 entdeckt hätte, säße vor der Ausgrabungsstätte am Ausgang und signiere die Eintrittskarten. (Thomas Glatz)

Kulinarische Entdeckungen

(Jürgen Witte) Morgens in einem deutschen Mittelklasse-Hotel. Eine Gruppe Japaner steht schnatternd an der Rezeption und wartet auf den Bus, der sie zum Flughafen bringen wird. Sieben europäische Länder in fünf Tagen oder so. Drei Leute bearbeiten in ihrem Singsang den ahnungslosen Mann an der Rezeption, bis der ihr Anliegen endlich versteht und ihnen die fünf magischen Buchstaben auf einen Zettel schreibt. Zwei der Japaner machen sich eiligst auf zum nahegelegenen Supermarkt. Als der Bus vorfährt, kehren auch sie, abgehetzt, aber gerade noch rechtzeitig, wieder zurück. Stolz zeigen sie den anderen eiligen Reisenden ihre Eroberung. Vier Familienfläschchen Maggi-Würze. Ein anerkennendes Raunen geht durch die Menge. »Hai! Hai!«-Rufe. Die exotischen Geheimnisse der japanischen Küche?

Pluralismus der Gegenfragen

Ein Kollege kam mit einer Frage auf den Lippen und folgender Einleitung zu mir ins Büro: »Sag mal – du kennst dich doch aus, du hast doch zwei Studiums...« – »Ja, deswegen kenne ich beispielsweise auch den Plural von Studium! Und wie lautet eigentlich der Plural von Plural? Wie nennt man das Gegenteil? Und was ist der Plural davon?«

(Jan Lipowski)

Sommer 2006 - eine Meditation

(Bov Bjerg) Viele der deutschen Fähnchen haben ein falsches Gelb. Nein, kein falsches Gold, sondern ein falsches Gelb. Denn wie schon Arnold Rabbow 1969 prägnant formulierte: »Die deutschen Farben sind Schwarz-Rot-Gelb, aber sie heißen Schwarz-Rot-Gold.«

Viele Fähnchen haben ein simples, gleichsam salbaderfarbenes ›yellow‹ (#FFFF00) statt einem ›gold‹ (#FFD700).

Dieses ›yellow‹ scheint eine Art Zitat von ›gold‹. Wenn man sich in dieser Angelegenheit aber schon mit einem Zitat begnügt, warum gibt es dann nicht gleich Fähnchen, auf denen einfach untereinander steht:

Schwarz – Rot – Gold. Oder, für die Mediengestaltungshipster: #000000 – #FF0000 – #FFD700. Oder, für die Verfassungspatrioten: ›Art. 22 GG‹.

Ich glaube, ein Fähnchen mit der Aufschrift ›Art. 22 GG‹ zu schwenken, könnte ich mir u. U. ggf. vorstellen, evt., kurzzeitig. (Kurzzeitig: vorstellen, nicht schwenken.)

Heute, am Tag nach dem Italien-Spiel, schon viel weniger Fahnen. Gutes Zeichen. Wenn die Deutschen ihre Flaggen nach Stalingrad auch so zügig eingerollt hätten, wäre der Welt usw.

Schrobenahusen, Donauwörth

Das oberbayrische Schrobenhausen ist nicht nur ›Spargelstadt‹, sondern sogar ›Europäische Lenbachstadt‹. Aus dem Ort stammte der Münchner Kunstmaler Lenbach, worauf die Schrobenhausener mächtig stolz sind. Auch das schmucke Donauwörth hat schöne Beinamen, die auf Besonderheiten der Kreisstadt hinweisen. Wenn ich mit dem Zug gelegentlich durch Donauwörth fahre, freue ich mich immer schon auf den Moment, wenn ich unter dem Ortsschild das Schild: ›Stadt der Käthe-Kruse-Puppen‹ lesen kann. Seit neuestem freue ich mich sogar ein wenig mehr, denn unter dem ›Käthe-Kruse-Puppen-Stadt‹-Schild prangt das Schild: ›Hubschrauberstadt Europas‹. (Thomas Glatz)

Versuch über Borstel, Groß-Borstel und Gospel (Einbürgerungstest, mündlicher Teil)

Der Borsteler Gospelchor.

Der Groß-Borsteler Gospelchor.

Der große Groß-Borsteler Gospelchor.

Da hat sich der große Groß-Borsteler Gospelchor mordsmäßig verhaspelt. (Bov Bjerg)

Heinz und Judith von damals

(Andreas Scheffler) U-Bahnhof Gesundbrunnen, mein Bahnhof aus der Weddinger Zeit. Wenn ich hier aussteige, muss ich immer an meine ehemaligen Nachbarn aus der Spanheimstraße denken. Heinz, ein buckliger Frührentner und Alkoholiker, mit dem ich manchen Jägermeister getrunken habe, und Judith, seine Frau, mit zwei kaputten Hüften, zahnlos aber trotzdem ständig keifend, die mir immer mal wieder sagte, wenn sie doch zwanzig Jahre jünger wäre, dann würde sie aber mit mir Sachen anstellen... Ich war froh, dass sie nicht zwanzig Jahre jünger war.

Titelschutz

Abstandsgrün und Dammschnittquote – ein heiterer Roman aus dem Hebammenmilieu Hohenschönhausens. (Bov Bjerg)

Die Rolle der deutschen Bahn im Ablöseprozess

Im ICE nach Berlin. In Hannover winkt ein junger Mann wie wild vorm Zugfenster. Eine Mitreisende weist das gerade zugestiegene Ehepaar mittleren Alters auf den Winkenden hin. »Tja, so ist das,« erklärt daraufhin die Frau, »sobald man im Zug sitzt, vergisst man die Kinder.« Sagt’s und holt ein Rätselheft raus. (Volker Surmann)

Der höchsten Güter nicht

(Jürgen Witte) Hierzuland hält man nicht viel von der Demokratie. Laut neueren Untersuchungen lassen selbst die Bürger der Ehemaligen noch immer erschreckend wenig Freude an der Freiheit erkennen. Wieso auch? Sehen sie doch jeden Tag im Fernsehen, wie weit man es in China mit Kapitalismus ohne bürgerliche Freiheiten bringen kann. Diese wuseligen Musterknaben der Weltwirtschaft. Acht Prozent Wachstum jedes Jahr. Das hätten sie in der DDR bestimmt auch ganz locker schaffen können, ohne Anschluss; also mit Wohlstandsgefälle, Ostmark und globalem Freihandel. Wenn der Egon Krenz 1989 die Zügel nur kräftig in die Hand genommen hätte… – aber reden wir nicht davon.

Es war nicht alles schlecht!

»Trotzdem war nicht alles schlecht«, schloss ich meine kritischen Feststellungen über die Verhältnisse in der DDR. Meine Liebste lernte für VWL und hatte mich, da sie damals ja noch Pionier war, nach Problemen in der Zentralwirtschaft gefragt. »Und was wäre, wenn die Wende nicht gekommen wäre?« – »Nun, dann hätte ich nach Jahren des Wartens jetzt vielleicht einen Trabi bekommen, die Innenstädte wären weiter zerfallen, Mangelwirtschaft und Umweltschäden dramatisch fortgeschritten, ich wäre kleiner Wartungsingenieur in einem VEB und wir hätten bestimmt längst geheiratet, um wenigstens die Chance auf ein eigenes Arbeiterschließfach in einem Plattenbau zu bekommen.« – »Ja, ... es war nicht alles schlecht!«, wiederholte sie tiefsinnig lächelnd.

(Jan Lipowski)

Zeitsoldat, Rosenkohl, Kartoffeln

Der Vorsitzende Richter Klaus Drescher wirft an dieser Stelle einen Blick zur Uhr. Die Zeit ist fortgeschritten. »Wir machen jetzt noch bis zum Verzehren des Penis«, entscheidet er, »und dann machen wir Mittagspause«. (SZ, 8. 5. 2006)

Drescher (…) zählte die Beilagen auf, die der frühere Zeitsoldat zu seiner ersten Menschenfleischmahlzeit bereitete: Rosenkohl und Kartoffeln. (SZ, 9. 5. 2006)

Ich bin ja Vegetarier. Wenn ich einen Menschen schlachten würde, ich wüsste gar nicht, wie man den richtig zubereitet. Wahrscheinlich würde ich meine Mutter anrufen. (Bov Bjerg)

Familienausflug

Am Flussufer, wir gucken aufs Wasser, auf dem sich diverse Vögel tummeln. Ein kleines Mädchen sieht eine Ente vorbeitreiben, hinter der hektisch einige Kücken paddeln und verzweifelt versuchen, mit der Mutter aufzuschließen. »Ist das die Mama?«, fragt das Kind.

»Ja, das ist die Mama und das sind die Babies«, antwortet der (ganz offensichtlich alleinerziehende) Papa.

»Das sind die Babies«, wiederholt das Kind, »wo ist der Papa?« – »Weiß ich nicht. Fort wahrscheinlich, weg«, wie aus weiter Ferne klingt hier irgendwie eigenes Erleben durch – »Ist der das?«, gibt das Mädchen nicht auf und deutet auf einen Haubentaucher unerkennbaren Geschlechts, der flankierend an der Mutter mit den Kücken entlang gondelt. »Nein, das ist er nicht.« – »Warum nicht?« – »Schau doch mal genauer hin: Der sieht doch ganz anders aus!« – »Wieso schwimmt er dann mit der Mama und den Babies?« – »Keine Ahnung, wird halt auch so’n Patchwork-Dingens sein...« (Theo Fuchs)

Kulturkluft

(Andreas Scheffler) Yorckstraße. Jede Menge Osmanen. Nur Männer. Laut. Warum? Keiner ist fröhlich. Jedenfalls sieht man es nicht. Man spürt auch keinerlei Heiterkeit. Ich summe einen Schlager von Billy Mo aus meinem Geburtsjahr 1966 vor mich hin: »Da sprach der Scheich zum Emir/ Erst zahln wir und dann gehn wir/ Der Emir sprach zum Scheich:/ Zahln wir später gehn wir gleich.« Niemand erkennt den Titel. Ist vielleicht auch besser so.

Nachrichtenkoller

(Bov Bjerg) Schlagzeile: ›Berlin will knapp 800 Soldaten nach Afrika schicken.‹

Waaas? Überschlage im Kopf: Reinickendorf 100, Neukölln 150, Treptow 100, Zehlendorf 70…

Diagnose

»Ich kenne Dein Problem. Immer die falschen Frauen. Denn Du gehst regelmäßig auf die Piste und schleppst Frauen ab (bzw. versuchst es), die später brav mit Dir zu Hause sitzen und nicht ständig zu Partys rennen sollen. – Hoffst Du wirklich im Nichtschwimmerbecken die Traumfrau für den nächsten Schnorchelurlaub zu finden?« (Jan Lipowski)

Stolz

(Andreas Scheffler) Ich muss zu einem Restaurant in der Nähe des S-Bahnhofs Yorckstraße. Es ist 19.00 Uhr, ich bin warm angezogen, habe etwas zum Lesen dabei, die Frisur sitzt, meine Stimmung ist gut. Am U-Bahnhof Bernauer Straße benutze ich nicht den Behindertenlift. Ich benutze nie den Behindertenlift. Treppensteigen ist für mich Körperertüchtigung. Die jungen Leute und die Radfahrer – die benutzen den Behindertenlift. Ich habe an der Bernauer Straße noch nie einen Behinderten am Lift gesehen. Behinderte in meiner Gegend fahren Taxi, Telebus oder bleiben zu Hause. Oder steigen mit ihrer Aluminium-Gehhilfe die Treppen runter, weil sie zu stolz für den Lift sind. Berlin-Mitte eben!

Auf der Zunge

Als ich zu Leno an den Tisch trete, sehe ich, wie er gerade in einer Baumarkt-Anzeigenbeilage einer Zeitschrift ›Welcher Türklinkentyp sind Sie?‹ liest. Während des langen Gespräches mit ihm habe ich mich nicht getraut, ihn nach seinem Türklinkentyp zu fragen, obwohl es mir die ganze Zeit auf der Zunge lag. (Thomas Glatz)

Coming-Out

Sich im Freundeskreis zu outen, ist für viele Homosexuelle ein schwieriges Unterfangen. Nicht immer gelingt es so beiläufig, wie auf einer Geburstagsparty, die ich einmal besuchte:

Partygast: »Die Seife im Bad riecht ja furchtbar.«

Gastgeber: »Ja, aber sie passte farblich so gut zu den Kacheln.« (Volker Surmann)

Rabattgesetz und Zugabeverordnung ade.

(Bov Bjerg) Plakat im Supermarkt: »Beim Kauf eines Kastens Berliner Pilsener erhalten Sie einen exklusiven Flaschenöffner. Nur für kurze Zeit.«

Wenn alle Flaschen aus dem Kasten aufgemacht sind, muss man den exklusiven Flaschenöffner also wieder zurückgeben.

Vielleicht muss man die Flaschen gleich an der Kasse alle mit dem exklusiven Flaschenöffner aufmachen. Vielleicht ist der exklusive Flaschenöffner sowieso angebunden an die Kasse mit zwanzig Zentimeter Spagat. Vielleicht kann man noch froh sein, wenn die Schnur lang genug ist.

Sensation

(Jürgen Witte) Die Berliner Feuerwehr hat ein neues Rettungsgerät am Fernsehturm getestet. Die gesamte Presse war dazu eingeladen und hat auch brav berichtet. Gespannt saß ich vor dem Fernseher. Abendschau: Das neue Rettungsgerät funktioniert einwandfrei. Es handelt sich dabei um ein 200 Meter langes Seil zum Abseilen von hohen Gebäuden.

Windelregal-FAQ

(Bov Bjerg) Stehe zum ersten Mal im Leben mit grundsätzlicher Kaufabsicht im Herzen vor einem Windelregal. In meiner Brust schubbern zwei Seelen (gleich neben Herz mit Kaufabsicht). Erste Seele brummt: »Bloß nicht übers Ohr hauen lassen. Bloß nicht!« Zweite Seele summt: »Zickezacke, zickezacke, nur’s Beste für die erste Kacke!« ’S Beste gibt es in Packungen zu 45 und zu 64. Krame in den 64er-Packungen, ganz unten liegt eine alte Packung: ›60 (+4!)‹

Wie lange wird das Kind 3-6 kg wiegen? Wie viele Windeln braucht man an einem Tag? Ab wann könnte man auf 5-9 kg umsteigen? Braucht man bis dahin überhaupt alle 60+4 Windeln auf? Wie viele Windeln aus der Packung 60+4 dürfen übrig bleiben, damit der geringfügig höhere Preis gegenüber der 48er-Packung immer noch sich rechnet? (Der IQ ist bereits zurückgegangen, das ist ja elternüblich, aber so ein Reflexivpronomen adornitisch zu postponieren, klappt immer noch ganz gut. Ist also evt. doch eine Stammhirnfunktion?) Nochmal: Wie viele Windeln aus der Packung 60+4 dürfen übrig bleiben, damit sich der geringfügig höhere Preis gegenüber der 48er-Packung immer noch rechnet? Sich.

Kaufentscheidung vertagt. Weitere Recherche nötig.

(Kleiner Schmunzler zum Schluss, zugleich Reminiszenz an eine Zeit, in der, ja was eigentlich? Früher, wenn ich beim Vorübergehen am Windelregal im Augenwinkel diese Kilo-Angaben gesehen habe, hab ich immer gedacht, da geht es um die maximale Füllmenge.)

Man steckt nicht drin

(Andreas Scheffler) Am Potsdamer Platz besteigen ein Japaner und eine Japanerin, es mögen auch Chinesen, Koreaner oder Vietnamesen gewesen sein, das Bahnabteil und kichern. Genaugenommen kichert nur sie; er schmunzelt tonlos. Man steckt ja nicht drin, aber ich frage mich, ob der Asiat, wenn er kichert, es ist ja doch ein anderer Kulturkreis und wohl auch eine andere Mentalität, wenn also der Asiat kichert, ob er dann auch irgendetwas lustig findet, oder ob das womöglich heißt, dass er über irgendetwas zu meckern hat. Man sagt doch: Der Japaner lächelt, aber zack! hat man ein Messer im Rücken. Ich weiß es nicht, aber ich glaube, die beiden waren ganz fröhlich. Trotzdem: Vorsicht ist geboten.

An der Kasse

(Bov Bjerg) Ich sehe Menschen, die tanzen, die sich freuen und küssen. Wehende Röcke. Lachen. Der Frühling der Freiheit.

Ich: »Mai 45?«

Sie: »Drei 45! Das macht drei 45!«

Ohnmacht

Neulich sollte ich einem ausländischen Freund das deutsche Wort ›Ohnmacht‹ erklären. Der kurze Bewusstseinsverlust war schnell umschrieben, doch den übertragenen Sinn vermochte ich nur mittelbar zu definieren: »Ohnmacht ist das, was man nach einem Besuch beim Steuerberater verspürt.« (Volker Surmann)