Nils Heinrich: Der Pinguin vorm Kino

Es war helllichter Nachmittag, kurz nach Barbara Salesch. Plötzlich stand direkt vor mir, an der Müller- Ecke Seestraße, vorm Alhambra Kino im Wedding, ein großer Pinguin. Ich ging ihm lediglich bis zum Bauch. Immer schon hatte ich unter meiner geringen Körpergröße gelitten. Meine 13-jährige Nichte ist größer als ich. Ich finde es gut, dass sie sich zu mir runterbeugt, wenn sie mit mir spricht. Manchmal steckt sie mir dabei Süßigkeiten zu. Hin und wieder darf ich auch auf ihren Schoß. Das finde ich nicht schlimm. Schlimm finde ich aber, dass ich jetzt schon kleiner als ein Pinguin sein sollte! Ich blickte mich ängstlich um, voller Furcht, dass die Großen über mich lachen. War aber augenblicklich beruhigt, weil ich sah, dass alle Menschen hier vorm Kino kleineren Körperwuchses waren als dieser Pinguin.

Es musste sich also logischerweise um einen mutierten Riesenpinguin handeln, ein Produkt atomarer Bombentests in der Antarktis. Kennt man ja von Godzilla. Godzilla hieß ursprünglich Lurchi Schmidt und war eine kleine gestreifte Zwergeidechse, in etwa so gestreift und klein wie eine Zahnpastawurst, mit bloßen Augen gerade noch so zu erkennen, doch dann kam der Franzose mit seinen Atomtests und, Bumm!, war Lurchi mutiert, nannte sich Godzilla, hatte einen Manager und wurde berühmter Filmstar.

Viele Mutanten werden berühmt, zum Beispiel sah Pamela Anderson vor ihrer zweifelhaften Karriere auch ganz anders aus, doch dann wurde sie atomar verstrahlt, der Rest ist bekannt. Genau wie Angela Merkel. Die ist zwar kein Filmstar, sah aber auch ganz anders aus, bevor in Tschernobyl der Reaktor hochging. Ja ja, vielleicht wollte mein Riesenpinguin hier ja zum Film und stand naiverweise deshalb vorm Kino, wo die Filme sind, wartete hier auf einen Produzenten, der ihn, ich sag mal, groß raus brachte?

Illustration: F.W. Bernstein

Nein, mir wurde klar, dass er hier vorm Kino aus einem anderen Grund rum stand: der Riesenpinguin verteilte Werbezettel für einen Film namens ›Außerirdische Mutantenpinguine versus dem Godzilla seinen großen Bruder‹ oder so. Darum hatte sich mittlerweile auch eine Menschentraube um ihn gebildet. Alle starrten ihn an, nicht, weil er ein zwei Meter großer Pinguin war, sondern voller Neid, weil er Arbeit hatte, im Wedding, einem Bezirk mit einer Arbeitslosenrate von 60 Prozent! Jemand mit einer Arbeit, das war hier im Bezirk eine echte Sehenswürdigkeit. Viele machten Fotos. Ein Polizist stellte sich neben den Pinguin und ließ sich von seinem Kollegen fotografieren. Danach legte er dem Pinguin den Arm um die Schulter und ließ sich noch mal fotografieren. Dann legte er dem Pinguin Handschellen an und ließ sich noch mal fotografieren. Der Pinguin rief: »Ey, ich hab doch gar nichts gemacht, ich verteile doch nur Zettel für einen Pinguinfilm. Ich kann ihnen meinen Ausweis zeigen, wenn sie wollen!« Der Polizist wartete am gefesselten Pinguin, bis sein Kollege das Foto gemacht hat. »Nein, sie brauchen sich nicht ausweisen. Was soll denn in ihrem Ausweis schon stehen? Das sie ein Pinguin sind? Ich kann doch sehen, dass sie ein Pinguin sind. Ich bin doch nicht blöd! Ich bin Polizeiobermeister!

Wir wollten nur mal eben ein Scherzfoto machen, für den Dienstwagen, fürs Armaturenbrett, damit wir im Dienst was zu lachen haben, während wir von den Albanern im Soldiner Kiez beschossen werden. Tut mir Leid wegen der Unannehmlichkeiten. Hier, sie sind wieder frei. Schönen Tag dann noch.«

Der Pinguin richtete sich mühsam wieder auf. Die Rippen taten ihm weh, weil ihn der Polizist doch recht grob in Bauchlage auf dem Fußweg fixiert hatte, um sich dann auf ihn zu stellen. Suchend blickte sich der Pinguin auf dem Fußweg um, er vermisste seine Werbezettel für den Pinguinfilm. Sie waren nicht mehr da, der Wind hatte sie fortgeweht. Traurig, denn nun hatte der Pinguin keine Arbeit mehr. Die Menschenmenge löste sich auf, es gab ja auch nichts mehr zu sehen. Doch nur ein weiterer gewöhnlicher Nachmittag, der da im Wedding zu Ende ging, und einen weiteren Arbeitslosen hinterließ. Immerhin jedoch einen mit Frack. Zumindest outfittechnisch würde sein Fallmanager in der Arbeitsagentur nichts an ihm auszusetzen haben.