Dan Richter: Sebastian Kritzokat

Sehr geehrte Frau Kritzokat!
Hiermit möchte ich Ihnen mitteilen, dass sich Sebastian heute wieder ziemlich rüpelhaft gegenüber seinen Mitschülern verhalten hat. Ich möchte Sie bitten, Ihren Einfluss ihm gegenüber geltend zu machen und ihn dazu ermutigen, sich in der Klasse sozial zu verhalten.
Mit freundlichen Grüßen
Stahl

Werte Frau Stahl
Ich weiß nich, was sie immer haben. Sebastian hat mir selber gesacht, dass die Svenja und der Öhmer und die Mareike eingefangen haben. Und da hatta sich ebent gewehrt. Ich hab ihm immer gesacht, Sebastian hab ich zu ihn gesacht, Sebastian, wer dir was tut, dis las dir nich gefalln. Und gefalln lassen – dass is die Sache, die er sich nicht mehr tut. Ich möchte Ihnen sagen, dass der Sebstian kein Rüpel is, sondern die Svenja und der Öhmer und die Mareike. Und der Philipp auch.
Was ich von Ihn, Frau Stahl, nich versteh, warum soll ausgerechnet der Sebastian in der Klasse der Soziale sein. Die Familie von der Svenja kricht auch Sozialhilfe. Und die türkischen Familien. Aber is egal, ob die türkisch sind. Was ich nich versteh – warum hacken Sie auf dem Sebastian rum? Wo liecht da der Grund für?
Mit hochachtungsvollsten Grüßen
Kritzokat
PS: Und die Kathleen auch.

Sehr geehrte Frau Kritzokat
Ich möchte, dass Sie mich nicht falsch verstehen. Es geht hier gar nicht darum, wer angefangen hat. Die Gewalttäigkeiten Ihres Sohnes Sebastian stehen in keinerlei Verhältnis zu den nichtigen Anlässen, die ihn zu diesen bewegen. Darüberhinaus korreliert seine angemaßte Position innerhab des Sozialgebildes Klassen-Netzwerk in keiner Weise mit den von ihm für die Klasse erbrachten Leistungen. Wenn ich von „sozialem Verhalten“ spreche, beabsichtige ich keinerlei inhaltliche Referenz zu der Tatsache, dass Sie oder andere Familien dieser Klasse von Sozialhilfe leben. Vielmehr geht es mir um ein dem Leben der Klasse adäquaten Verhalten seitens ihres Sohnes. Des Weiteren möchte ich noch unterstreichen, dass niemand auf Sebastian herumhackt. Mein letztes Schreiben sollte vielmehr, ebenso wie dieses, ein Hinweis auf das Faktum sein, dass das gemeinschaftsorientierte Benehmen ihres Sohnes Sebastian zu wünschen übrig lässt.
Mit freundlichen Grüßen
Stahl

Sehr geehrten Tag Frau Stahl,
wieso geht es denn nich darum, wer angefangen hat? Ich kann es Ihn doch sagen! Svenja und Öhmer und die Mareike. Ich hab Ihn das auch doch schon schriftlich niedergelecht in mein letzten Brief. Und ich erwarte mit mein Lebensgefährten, dass Sie was gegen diese Raudies unternehmen, z.B. Nachsitzen. Oder Strafarbeit. Ich weiß nich, warum mein Sohn jetzt koalieren muss. Mein Lebensgefährte und ich finden, dass die Schule kein zweiter Bundestag ist. Klassen-Netzwerk hin oder her.
Außerdem mal eine Frage: Was solln das, dass Sie immer so sehr beton: „Ihr Sohn“. So als ob dis gerade nich mein Sohn is? Wenn Sie mit Ihre Unverschämthaftigkeiten Ihrerseits so fortfahren von Ihrer Seite aus, dann müssen mein Lebensgefährte und ich von unserer Seite andere Seiten aufziehen.
Wenn Sie ein adäquates Verhalten seitens von unsern Sebastian wollen – wir könn da auf sone Experimente gerne drauf verzichten.
Und ein schön Gruß von mein Lebensgefährten, Sie solln sich ma um Ihre eigenen Kinder kümmern.
Mit hochachtungsvollen Grüßen
Kritzokat

Sehr geehrte Frau Kritzokat
Ich habe den Eindruck, dass sich hier einige Missverständnisse zwischen uns aufgetan haben. Wenn ich sage, dass es unerheblich ist, wer „angefangen“ hat, möchte ich keinesfalls in Abrede stellen, dass im singulären Kasus, ihren Sohn nur punktuell die Schuld trifft, vielmehr wollte ich meiner Befürchtung Ausdruck verleihen, dass die innere Balance von Sebastian im Kippen begriffen ist und er Gefahr läuft, seinen Gewalt-Impulsen allzu leicht nachzugeben.
Auf gar keinen Fall wollte ich mit der Formulierung „Ihr Sohn“ in Abrede oder Zweifel ziehen, dass es sich bei Sebastian um ihren Sohn handelt. Vielmehr war mir daran gelegen, ihre emotionale und pädagogische Verantwortung für ihn zu akzentuieren.
Ich vermute, es wäre für alle Seiten das Beste, wenn wir uns einmal ganz locker treffen könnten, um die aufgekommenen Differenzen und Problemfelder ausgiebig zu erörtern. Machen Sie ruhig einen Terminvorschlag. Ich richte mich da ganz nach Ihnen.
Mit freundlichen Grüßen
Stahl

Frau Stahl,
wir wolln uns nich treffen
Kritzokat