Uli Hannemann: Unterschicht

Nach hinten, aus dem Küchenfenster meiner neuen Wohnung, blicke ich nachts auf eine Mischung aus Dessau und Las Vegas: Das Panorama prägen bunte Leuchtreklamen von ›Getränke Hoffmann‹, ›Neue City Bowling‹, ›Reichelt‹, ›Elixia‹ und vor allem ›Bauhaus‹. Bald ist das Auge übersättigt und ich gehe nach vorne, ins große Zimmer. Von gegenüber leuchtet hier nur eine einzige weiße Riesenreklame grell zu mir herein: ›Karstadt‹. In diesem Moment schießt mir als erstes stets dasselbe durch den Kopf: »Unterschichtenwohnraum«. Und als zweites: »Hier wohne ich jetzt also.«

Zum Renovieren muss ich noch ein paarmal in die alte Wohnung zurückfahren, an Wulle vorbei, wo man nichts als Gegenstandsattrappen kaufen kann: Unechte Messer, die nicht schneiden; unechte Taschenlampen, die den zweiten Tag nicht überstehen; unechte Stoppuhren, die nur halb so viel kosten, wie die leeren Batterien, die in ihnen stecken. Alles ist billig und nichts ist zu gebrauchen. Die Anwohner werden von den Preisen angelockt, weil sie kein Geld haben. Dann kaufen sie sich die Sachen und die Sachen funktionieren nicht und sie kaufen sie nochmal und nochmal und nochmal. Am Ende geben sie auf diese Weise viel mehr Geld aus, als wenn sie sich nur einmal was Vernünftiges gekauft hätten, doch dafür sind sie immerhin beschäftigt, denn sonst haben sie ohnehin nichts zu tun. Sie werden nämlich selbst nicht gebraucht: Sie sind selber bloß Attrappen – Sozialattrappen –, und sie sind billig. Viele billige Menschen nennt man Infanterie und in den USA »Marines« – die erkennt man an ihrer dunklen Hautfarbe.

»Wenn die nicht so viel saufen würden«, sagen diejenigen Menschen, die die immer größer werdende Zahl unechter Menschen immer weniger brauchen können, »dann würden sie vielleicht vernünftige Sachen kaufen, die länger halten – warum saufen die bloß so viel?« Sie drehen sich wieder um zu ihrer Arbeit, die wichtig ist und sie erfüllt, und rümpfen die Nase über diese unbrauchbaren Leute, die nach Müll riechen, der Stadt und dem Tod.

»Wann tun die wenigstens einmal was Nützliches und begehen endlich Selbstmord?«, seufzen sie vielleicht noch still in sich hinein. Man muss die Dinge auch mal aussprechen. Sie werden die jedenfalls nicht länger mit durchschleppen – die Zeiten sind, Gott sei Dank, vorbei.

Hinter Wulle ist ein Farbenladen – da kaufe ich billige Wandfarbe. Der Preis ist einfach zu verlockend: »Für billige Wände in billigem Wohnraum sollte das reichen«, denke ich – so funktioniert die billige Parallelwelt mit billigem Fressen, billigen Fernsehsendungen und billiger Farbe für billige Menschen. Daneben leuchtet die Schlemmereckchenqualitätswelt für Schlemmereckchenqualitätsmenschen mit ihrer Leuchtreklame noch den finstersten Winkel billiger Wohnzimmer aus.

Die Farbe deckt absolut nicht. Das wundert mich im Nachhinein nicht, aber wir Discountkreaturen haben leider ein äußerst schlechtes Gedächtnis. Bestimmt vom Saufen. Ich streiche eine Schicht und noch eine Schicht und noch eine. Jede Schicht sieht aus wie eine Unterschicht, die noch auf den endgültigen Anstrich mit so einer edlen Schlemmereckchenqualitätsfarbe wartet. Wahrscheinlich kommt die Bezeichnung »Unterschicht« von eben dieser Farbe: Von morgens bis abends streichen die Billigleute mit der Billigfarbe vergeblich eine nutzlose Unterschicht nach der anderen auf die Wand der Gesellschaft. So kommen sie kaum auf gefährlich kluge Gedanken, streichen sich endgültig aus der Liste der Existierenden und immatrikulieren sich stattdessen in die der Existenzen. Am Abend lehnen sie sich vor einer Fernsehsendungsattrappe in ihre schwedische Sofaattrappe zurück, müde und unzufrieden, dass sie wieder nichts geschafft haben, und saufen natürlich.

»Morgen bringe ich wenigstens die Taschenlampenattrappe in die Parallelwelt zurück«, nehmen sie sich vor, bevor ihnen endgültig die Augenattrappen zufallen, »oder ich beschwere mich wegen der Wandfarbenattrappe.«

Gegen Abend fahre ich nach Hause, frustriert und von oben bis unten bekleckst, denn auf unechten Leuten hält die unechte Farbe immerhin. Vorbei am Farbenladen, an Lidl und an Wulle. Wer dort arbeitet, ist doch selber eine Halbattrappe fern aller Schlemmereckchen. Vielleicht flippt in diesem Moment irgendwo dort drin ein Verzweifelter aus, leert einen riesigen Sack falscher Toaster, Messer und Stoppuhren scheppernd auf den Tresen der Reklamation und schreit wie ein Tier, dem man einen riesigen Haufen unbrauchbarer Scheiße angedreht hat, das eigene Leben inklusive. Natürlich sitzt ihm auch bloß so ein armes Schwein von der Infanterie gegenüber: vorgestern Korea, gestern Vietnam und heute Woolworth Herrmannstraße. Am Ende zieht der Verzweifelte die Knarre und die ist als einziges immer echt.