Heiko Werning: Hilferufe von drüben

Die DDR war für mich, der ich in Münster nahe der holländischen Grenze aufwuchs, ein fernes, exotisches Land. Keiner von uns war je dort gewesen, wir kannten niemand da, und hinfahren wollte erst recht keiner.

Dementsprechend befremdlich wirkte auf mich die Aufregung, die um diesen Langweiler-Staat permanent veranstaltet wurde. In der Schule durften wir ihn nicht einmal so nennen, wie er zu Hause selbstverständlich hieß. Hätte man ihn einfach ignorieren können, wäre das ja gar kein Problem gewesen, aber mit derselben Unbarmherzigkeit, mit der wir spätestens alle zwei Jahre in Biologie den Aufbau des Pantoffeltierchens auswendig lernen mussten, mussten wir uns permanent in Geschichte, Politik und Erdkunde mit der DDR auseinandersetzen. »Das heißt so genannte!«, fuhr einem der Politiklehrer über den Mund, wenn man die bösen drei Buchstaben arglos aufgezählt hatte, und in der Klassenarbeit Deutsch wurde es angestrichen, wenn man die Gänsefüßchen vergaß. Ebenso tabu war auf der anderen Seite die Benennung der staatlichen Konstruktion, in der unsere Stadt lag, als BRD. Denn dies, so wurde man nicht müde, uns zu erläutern, dies sei eine böse Falle der Kommunisten, die nur dazu diene, den Blick davon abzulenken, dass das ja schließlich alles Deutschland sei, ein Deutschland eben, das sei doch das Ziel der Russen und Honeckers, dass man nur noch von DDR und BRD spreche und Deutschland schließlich untergehe. »Deutschland« wurde merkwürdigerweise dennoch als Synonym für BRD allgemein akzeptiert. Diese etwas eigenwilige Nomenklatur stieß zumindest in Geschichte und Erdkunde aber an die nicht akzeptierten Grenzen, denn dort kam man ja nicht umhin, bei den ständigen Thematisierungen die beiden Gebilde auch unterschiedlich zu benennen, sodass dort die Schreibweise ›BR Deutschland‹ vorgeschrieben war, bei einigen Lehrern war sogar das ›BR‹ verpönt und musste ausgeschrieben werden. Einzig Herrn Humbert war das zu doof, und er kürzte an der Tafel gnadenlos in ›BuRepDeu‹, was einen empörten Vater unserer Jahrgangsstufe zur Intervention veranlasste, weil er die vermuteten subversiven, verfassungsfeindlichen Einflüsse auf uns Schüler unverantwortbar fand. Da aber niemand eine Verwendung von ›BuRepDeu‹ in einem real sozialistischen Zusammenhang nachweisen konnte, durfte Herr Humbert weiter nach seiner Art abkürzen und galt fortan als fünfte Kolonne Moskaus in unserem Gymnasium, was unseren Respekt für ihn allerdings nur noch steigerte.

Mit derselben Strenge aber, mit der wir den östlichen deutschen Staat negieren mussten, mussten wir ihn gleichzeitig füttern. »Hilferufe von drüben«, hieß die Aktion, und einer unserer Lehrer war einer ihrer großen Aktivisten. Sein liebstes Geschenk an uns Schüler war ein DDR-Länderkennzeichen-Autoaufkleber, nur dass das Oval bei Herrn Hohenborks Aufklebern von einem Stacheldraht eingegrenzt wurde. Was »Hilferufe von drüben« sonst so gemacht hat, weiß ich nicht, für uns jedenfalls bedeutete es vor allem eines: Wir mussten Kaffee ranschaffen. Kaffee, gebrauchte Kleidung und Damen-Strumpfhosen. Denn die so genannte DDR war ein Unrechtsstaat, in dem die Menschen mit Stacheldraht eingesperrt waren, damit sie sich keinen Kaffee, keine Jeans und keine Damenstrumpfhosen kaufen konnten. Diese menschenrechtsverachtende Praxis wurde aber von Herrn Hohenbork unterminiert, der Tausende von Paketen gen Osten entsandte, vollgestopft mit Jacobs, Wrangler’s und Nylon. Das ganze Zeug musste aber irgendwoher kommen. Die Kleidung war kein Problem: »Das kannst du doch nicht mehr tragen, Junge, nimm das mal mit zur Schule für die da drüben«, wurde ein häufig gesprochener Satz in Münster-Hiltrup. Der Rest musste aber gekauft werden, und so mussten wir zur Geldbeschaffung ununterbrochen irgendwelche Aktionen durchführen. Ich habe im Lauf meiner acht Gymnasialjahre zwischen 1981 und 1989 auf Schulfesten für Kaffee gesungen, für Kaffee Theaterstücke in der Aula aufgeführt, wir gingen in der Projektwoche durch Hiltrup sammeln für Kaffee, wir bastelten, tanzten, malten und spielten Volleyball für Kaffee – ja, ich habe Volleyball für Kaffee gespielt! Mit den Einnahmen ging Herr Hohenbork dann immer in den Ratio-Großmarkt und kam mit ganzen VW-Bus-Ladungen Meisterröstung wieder zur Schule zurück. Jede Klasse bekam dann einen großen Stapel ins Klassenzimmer gestellt und musste die ganzen vakuumverschweißten Pfunde in Pakete packen. Ich würde vorsichtig schätzen, dass jeder Schüler meines Gymnasiums bis zu seinem Abitur eine halbe Tonne Kaffee in die so genannte DDR geschickt hatte. Wenigstens durfte man beim Adressieren der Päckchen endlich mal DDR ohne Anführungszeichen schreiben, denn mit wäre aus der Kaffeelieferung sozusagen eine politische Paketbombe geworden, die von den Grenzern direkt beim Übertritt entschärft worden wäre, wie Herr Hohenbork warnte, und dann würden die DDR-Grenzsoldaten unseren mühsam zusammengesungenen Kaffee in einer Pause zwischen zwei Erschießungen selber trinken.

Illustration: F.W. Bernstein

Neben dem politischen Kampf um das Überleben von Deutschland in unseren Klassenarbeiten und der Beantwortung der Hilferufe von drüben mit koffeinhaltigen Sendungen sollte auch noch die gar nicht vorhandene menschliche Bindung zu den Brüdern und Schwestern auf der anderen Seite gefestigt werden. So startete unsere Schule eine große Brieffreundschaftsaktion. Natürlich völlig freiwillig, wir lebten ja schließlich nicht in einem Unrechtsregime. Wer keine Lust hatte, musste auch nicht mitmachen – sondern lediglich zu Einzelgesprächen mit Klassen- und Vertrauenslehrer, mit Herrn Hohenbork und dem Vize-Direktor. Anschließend erhielt er eine besondere Förderung im Politik- und Geschichtsunterricht, da ja hier einige Defizite ganz offensichtlich waren, aber sonst konnte man sich völlig frei entscheiden. Entsprechend begeistert bettelten wir Herrn Hohenbork um Ost-Adressen an. Das führte zu interessanten Briefwechseln:

»Lieber Mario, ich hoffe, es geht dir und deiner Familie gut, obwohl ihr in Jena lebt. Hat deine Mutter genug zum Anziehen? Viele Grüße, dein Heiko«

»Lieber Heiko, viele Grüße auch von meiner Mutter, sie braucht jetzt wirklich keine Strumpfhosen mehr und der Kaffee reicht auch noch eine Weile, aber sie meint, wir trügen die Hosen lieber ohne abgewetzte Knie, dein Mario«

Herr Hohenbork meinte, so seien sie eben da drüben im Osten, ganz bescheiden, die trauen sich das gar zu sagen, wie schlecht es ihnen geht, ja, die dürften das überhaupt nicht sagen. Wenn sie schreiben würden, dass sie Kaffee bräuchten, dann würde die Stasi sie sofort ins Gefängnis sperren, das seien im Grunde ganz typische Hilferufe von drüben.

Nur einmal hat meine Hilfslieferung wirklich Begeisterung ausgelöst. Mario erwähnte, dass er ein großer Udo-Lindenberg-Fan sei, aber leider bekäme man ja nichts von dem in der DDR. Nun war meine Musiklehrerin zufällig dessen Cousine und ich erzählte ihr von der Notlage in Jena. Zwei Wochen später drückte sie mir ein paar Autogrammkarten in die Hand, signiert mit: »Für Mario, dein Udo«. Die schickte ich los und bald darauf erhielt ich dann erstmals Jubelschreie von drüben. Fünf Doppelzentner Meisterröstung ohne nennenswerte Reaktion, aber bei sechs unterschriebenen Postkarten überschwängliche Dankesorgien. Dann kam die Wende und meinen letzten Brief an Mario erhielt ich mit dem Stempel ›unbekannt verzogen‹ zurück. Es war vorbei. Endlich.