Robert Naumann: Schweinebaumeln in der U2

Sonnabend morgens, halb sechs. Bin nicht im Bett. Wenn meine Frau jetzt aufwacht und guckt, lieg ich gar nicht neben ihr. Vielleicht legt sie sich dann so schräg, um das mal richtig auszunutzen. Ist ja das erste mal seit vielen Jahren, dass ich um halb sechs Uhr morgens noch unterwegs bin. Ich bin nicht mehr der Nachtschwärmer von vor zehn Jahren, eher der Typ »Früher Vogel fängt den Wurm«.

Ich sitze im U-Bahnhof Eberswalder Straße und versuche seit fünf Minuten, eine Entscheidung zu treffen. Soll ich die Minipizza in meiner Hand essen oder nicht? Warum hab ich die eigentlich gekauft, diese kulinarische Grausamkeit? Bin ich betrunken? Ein klares »Nein« wäre wohl eine ziemlich gewagte Hypothese. Aber so genau kann ich das in meinem Zustand nicht beurteilen. Die Minipizza zumindest ist ein Indiz dafür, dass ich komplett besoffen bin. Andererseits kann ich völlig klar denken. So klar, dass ich die Peperoni von der Minipizza runternehme und den Rest wegschmeiße, eine sehr weise Entscheidung, wie ich finde. Vielleicht war ich beim Kauf der Pizza besoffen und bin jetzt wieder nüchtern. Klingt plausibel. Ich könnte ja mal versuchen, auf dem weißen Strich da vor mir geradeaus zu gehen. Huch, das ist ja die Bahnsteigkante. Das gibt der Sache natürlich eine pikante Note. Das ist aber auch fies, dass die den weißen Strich an der Bahnsteigkante gemalt haben. Wer weiß, die ganzen „Vor-die-U-Bahn-Springer“ waren vielleicht gar keine Selbstmörder, sondern Betrunkene, die zeigen wollten, dass sie nüchtern sind. Aber bei mir klappt es ganz gut. Zur Belohnung erst mal ein Bier. Ist bestimmt noch welches im Rucksack. Wenn ich so betrunken war, mir eine Mini-Pizza zu kaufen, hab ich bestimmt auch Bier dazu geholt. Tatsächlich, da sind sogar mehrere. Oh mein Gott, es ist Becks. Das Faschistenbier. War ich wirklich so betrunken gewesen? Oder hat mir das jemand heimlich reingesteckt, um mir zu schaden? Was mach ich jetzt? Erst mal das Etikett ab. Der Schein muß gewahrt bleiben. Bleibt noch der eklige Geschmack. Vielleicht, wenn ich ganz schnell trinke, merkt man den nicht so. Bäh! Hat man doch gemerkt. Egal, Hauptsache, das Becks will nicht wieder raus. Würde mich nicht wundern. Ich als mein Magen würde auch protestieren.

Die U-Bahn kommt. Ich steige ein, die Türen schließen sich und da ist es passiert. Ich bin ganz allein im Wagen. Ein Kindheitstraum ist wahr geworden. Als Kind hatte ich ziemlich konkrete Vorstellungen, was ich machen würde, wenn ich tatsächlich mal in einem Wagen allein sein sollte. Schweinebaumeln, Klimmzüge, Füße auf den Sitz und ständig auf den Boden rotzen. Aber im Moment kommt mir das alles ziemlich albern vor. Bin ja kein Kind mehr. Ach egal. Das muss man ausnutzen. Erst mal schön über die Sitze laufen. Schade, dass es nicht geregnet hat, meine Schuhe sind gar nicht dreckig. Und jetzt Scratching, aber nicht diese komischen Zeichen, die kein Mensch lesen kann, ich kratze „Scheiß-BVG“ auf die Scheibe. So, eine Minute hab ich noch. Genau, Schweinebaumeln. Füße über die Stange, ich kann es noch wie früher. Okay, wieder runter. Mist, ich komm mit den Händen nicht mehr an die Stange ran. Braucht man wohl Bauchmuskeln dafür. Na, die hatte ich früher mal. Jetzt ist da eine undefinierbare schwammige Masse. Fett wahrscheinlich. Gut als Reserve für schlechte Zeiten, aber schlecht für Schweinebaumeln. Oh Mann, ich kann nicht mehr. Das Blut steigt mir in den Kopf und außerdem meldet sich das Becks wieder. Meine momentane Körperhaltung unterstützt die Lebensmittel, die wieder rauswollen.

Schönhauser Allee. Ein Mann steigt ein. Verkehrt rum. Ach nee, das ist nur mein Blickwinkel. Er kommt auf mich zu, geht in die Hocke, bis sein Gesicht auf meiner Höhe ist und sagt: »Ihren Fahrausweis bitte!« Oh Mann, das ist aber jetzt kein günstiger Zeitpunkt, mich um meinen Fahrschein zu bitten. Zumal ich keinen habe. Liebes Becks, bitte lass mich jetzt nicht im Stich. Die Gelegenheit ist günstig. Jawoll, noch ein kleines Stück, dann hast du’s geschafft. Und raus damit! Und noch eine Ladung. Und jetzt raus aus der U-Bahn. Ich reiße alle Bauchmuskeln, die ich habe, zusammen, erreiche die Stange, roll mich ab und hechte zur Tür, auf den Bahnhof Vinetastraße. Dann gucke ich noch mal zurück. Der Kontrolleur wischt sich verdautes Faschistenbier aus dem Gesicht.