Robert Naumann: Linsensuppe

Manchmal hab ich keine Lust mehr, Vater zu sein. Heute zum Beispiel. Und gestern nicht zu vergessen, da hatte ich auch keine Lust. Ganz zu schweigen vom vergangenen Jahr und den Jahren davor. Weil es keinen Spaß macht, den ganzen Vormittag in der Küche zu stehen und zu kochen und die Kinder kosten gar nicht erst oder spucken alles wieder aus.

Ich habe Linsen gekocht. Einen 9-Liter-topf bis zum Rand und noch mal 9 Liter, die über den Rand gequollen sind. Das muss man wissen, dass Linsen aufquellen und ihr Volumen verdoppeln. Hab ich nicht gewusst und dann 18 Liter Linsensuppe gehabt, die Hälfte im Topf, die Hälfte auf dem Herd. Mohrrüben waren auch noch drin und Kartoffeln und Sellerie, den ganzen Vormittag hab ich Würfelchen geschnitzt. Zum Schluss noch Essig, das gibt der Linsensuppe eine raffinierte Note. Weil mir die Flasche aus der Hand gerutscht ist, im Linsentopf versank und ihren Inhalt schon entleert hatte, als ich sie wieder rausfischte, war die Note nicht ganz so raffiniert, wie ich mir das vorgestellt hatte.

Es schmeckte wie Essig mit Linsen, umgekehrt wäre es richtig gewesen. Ich neutralisierte den sauren Geschmack mit einem halben Paket Zucker und Pfeffer, Pfeffer war immer gut. Früher haben sie Hasen, die zu lange abgehangen hatten und nicht mehr so gut rochen, so lange mit Pfeffer eingerieben, bis der strenge Geruch übertüncht war, und ihn dann als Pfefferhasen verkauft. Bei mir waren es jetzt Pfefferlinsen, und beim Abschmecken musste ich mir das Kompliment machen, den Karren noch mal aus dem Dreck gezogen zu haben. Es schmeckte tatsächlich nach Linsensuppe. Jetzt musste sie nur noch gegessen werden.

Illustration von CX Huth

Aber da hakte es. Grete weigerte sich zu kosten, Marie legte sich eine Linse auf die Zunge, spuckte sie nach einer Hundertstelsekunde wieder aus und behauptete, noch nie in ihrem Leben so was Widerliches gegessen zu haben. Meine Frau bemerkte, dass es optisch nicht der Hammer sei, aß aber immerhin drei Löffel.

»Mann«, beschwerte ich mich, »für so was hat Esau sein Erstgeburtsrecht verkauft!«

»Ja, weil er Hunger hatte«, meinte meine Frau. »Und weil ihm das Erstgeburtsrecht ziemlich schnuppe war.«

Die Kinder nickten und meinten, Esau wäre so am Verhungern gewesen, dass er praktisch gar keine andere Wahl gehabt hatte. Kein Mensch würde heute noch auf die Idee kommen, freiwillig Linsen zu essen, so was bieten sie nicht mal in der Schulspeisung an. Das stimmt. Da gibt es nie was Vernünftiges, immer nur aus Formfleisch zusammengesetzte Hähnchen- oder Putenschnitzel oder Spaghetti mit Sojabolognese. Widerliches Zeug. Und das kostet einen Haufen Geld, weil ein paar tausend ABM-Kräfte die Schnitzel erst zusammenpuzzleln müssen aus dem Formfleisch, und das Soja muss importiert werden von was weiß ich woher. Dabei kann man für zwei Euro 18 Liter Linsensuppe kochen, das reicht für 36 Kinder. Aber die essen das nicht, weil die alle antiautoritär erzogen werden.

Wenn einem früher als Kind was nicht geschmeckt hat, dann hat man es dezent runtergewürgt und höflich noch eine Portion verlangt. Und mit dem Kotzen hat man gewartet, bis alle aufgegessen hatten. Aber so was gibt‘s ja heute nicht mehr. Wenn so ein dreijähriger Steppke seinen Blumenkohl an die Decke klatscht, die Kartoffeln unter den Tisch pappt und dabei laut schreit, dass Mama eine blöde Kuh ist, dann stellt sich Mama eben schnell noch mal an den Herd und kocht Nudeln mit Ketchup, weil das seine Leibspeise ist.

Das würde ich nie tun, aber meine Kinder essen trotzdem keine Linsen. Sie haben noch nicht mitgekriegt, dass ich autoritär bin. Wenn ich sage, so, ihr esst jetzt den Teller leer, dann schütteln sie einfach mit dem Kopf. Sie wissen ja, dass ich sie nicht verprügeln kann, weil sie sonst gleich zur Polizei rennen und Anzeige erstatten.

Was sollte ich machen mit diesem Riesenhaufen Linsen? Konnte ich doch nicht alles wegwerfen! Doch, meinten die Kinder, weil sie keinen Respekt haben vor dem Essen. Aber ich konnte das nicht. »So«, sagte ich, »mir schmeckt das so gut, dass ich gar nicht aufhören kann mit Essen.«

Und so schob ich mir Löffel für Löffel rein, unterstützt von den Anfeuerungsrufen der Kinder. Zuerst die neun Liter aus dem Topf, dann die angebackenen Linsen vom Herd. Und jetzt ist mir schlecht.