Andreas Scheffler: Als echter Gütersloher

Der wichtigste Feiertag, also der, an dem man das Frei-haben am nötigsten hat, ist eindeutig Neujahr. Denn Silvesterfeiern haben etwas besonders Exzessives. Der Solide sagt sich: »So, einmal im Jahr darf ich mal über die Stränge schlagen« und nimmt sich vor, ordentlich ein Fass aufzumachen. Weil er aber nichts vertragen kann, ist er schon frühzeitig voll wie ein Eimer, belästigt Mitfeiernde, übergibt sich an einem ungünstigen Ort und schläft lange vor der Jahreswende ein. Derjenige, der auch sonst dem Feiern nicht abgeneigt ist, will zu Silvester alles andere toppen und endet am frühen Neujahrsmorgen mit einer Alkoholvergiftung in einem nahe gelegenen Krankenhaus. Ähnlich ergeht es dem mit den guten Vorsätzen, denn vor den Jahren der Askese will er noch mal alles mitnehmen.

Die meisten Silvesterfeiern verbrachte ich im Partykeller meines ältesten Bruders. Bei solchen Gelegenheiten wurden dort häufig lustige Spiele gespielt. Eines ging so: Jeder schrieb auf einen Zettel eine heitere Aufgabe; alle Zettel kamen in einen großen Bottich, und wenn man beim Mäxchenspiel drei mal falsch lag, musste man einen dieser Zettel ziehen. An sich waren es harmlose Aufgaben: ein zwanzig Minuten lang gekochtes Ei essen etwa, dem Nebenmann die Füße waschen oder zu Hause beim Bürgermeister anrufen. Einmal aber wurde es richtig schlimm für mich. Da war ich etwa 16. Ich musste zu einem nicht anwesenden Nachbarn gehen, denn ich nicht kannte, gehen und mit ihm einen Schnaps trinken. Dies musste ich mir darüber hinaus schriftlich bescheinigen lassen. Ich bin schon immer sehr schüchtern gewesen, und zu diesem Zeitpunkt war ich noch nicht annähernd betrunken. Und ich wusste nicht, dass die Familie meines Bruders mit der dieses Nachbarn im Clinch lag.

Etwa um halb elf klingelte ich bei Familie Killisch. Die Fenster waren hell erleuchtet. Niemand öffnete. Ich gab nicht auf und klingelte noch mal. Endlich hörte ich schlurfende Schritte. Ein dicker Herr in Pantoffeln und Strickjacke öffnete die Tür. »Was willst du denn um diese Zeit?« Er duzte mich, aber was soll‘s, schließlich war Silvester. »Ich komme von der Party bei Schefflers. Wir spielen ein lustiges Spiel, und ich muss mit Ihnen einen Schnaps trinken.«

»Habt ihr sie nicht mehr alle?«

»Tut mir leid, wenn ich Sie störe. Aber es geht ja ganz schnell. Wir trinken einen Schnaps, Sie bestätigen mir das auf einem Zettel, und schon bin ich wieder weg.«

»Hast du einen Schnaps mit?«

»Oh, Tschuldigung, daran hab ich nicht gedacht.«

»Ist schon gut, dann komm mal rein.«

Wir betraten einen Flur und dann ein Wohnzimmer. Die Hausfrau saß auf dem Sofa, im Fernseher lief eine Silvesterparty. Auf dem Couchtisch standen eine Flasche Bier, ein Glas Wein und eine Etagere mit Pralinen und Knabberzeugs.

»Mutter, wir haben Besuch«, sagte Herr Killisch. Ich gab Mutter die Hand. »Er kommt von Schefflers und soll mit mir einen Schnaps trinken. Irgendein Spiel…«

»Setzen Sie sich doch, junger Mann«, sagte Frau Killisch und wandte sich wieder dem Fernsehprogramm zu. Ich setzte mich, und der Hausherr holte eine frische Flasche Echter Gütersloher aus der Anrichte, ein klarer Kornbrand, der unscheinbar daherkommt, einen aber plötzlich und unerwartet zu einem Pflegefall werden lässt. Herr Killisch setzte sich übers Eck zu mir, stellte zwei Pinnchen vor uns hin, schenkte ein und sagte: »Na dann Prost!« Ich stürzte den Klaren herunter und stand auf.

»Vielen Dank, wenn Sie mir jetzt noch auf einem Zettel…«

»Auf einem Bein kann man nicht stehen«, hörte ich, und sein Blick sagte mir, dass jeder Widerstand zwecklos sein würde. Ich setzte mich wieder, und wir tranken.

Illustration von CX Huth

»Aller guten Dinge sind drei.« Ich wollte protestieren, doch er hatte schon nachgeschenkt. Seine Frau sagte die ganze Zeit nichts und verfolgte die Silvesterparty im Fernsehen.

»Ein vierfaches Band knüpft um so fester.« Ich hielt mit, und irgendwo blitze in meinem Gehirn der Eindruck auf, als ob Herr Killisch diabolisch grinste. Ob die weiteren Schnäpse auch durch Sprüche eingeleitet wurden, weiß ich nicht mehr.

Kurz vor zwölf sei ich wieder bei der Party aufgekreuzt. Alle hätten das Spiel schon längst abgebrochen gehabt. Um Mitternacht hätte ich noch einen Sekt mitgetrunken, aber man habe mich dann schnell ins Bett bringen müssen. Ach ja, einen Zettel hätte ich nicht dabeigehabt; dafür aber eine leere Flasche ›Echten Gütersloher‹.