Heiko Werning: Langzeitstudent

In letzter Zeit finde ich vermehrt Schreiben meiner Universität im Briefkasten. »Ist denn schon wieder Rückmeldezeit?«, denke ich dann immer, öffne den Umschlag und stoße auf Angebote wie: »Richtig bewerben – aber wie?«, »Seminar für Studienabgänger« oder auch: »Colloquium Karrierestart«.

Gelang es mir in den ersten Jahren noch, die Zettel achselzuckend zum Altpapier zu geben, besorgt mich nun doch der soziale Druck, der bei so fortgeschrittener Semesterzahl spätestens dann spürbar wird, wenn alte Freunde unter Glucksen fragen: »Und? Willst du immer noch zu Ende studieren?« Da sich allmählich bei mir das Gefühl entwickelt hat, nicht mehr richtig ernst genommen zu werden, beschließe ich, mal wieder universitäre Aktivitäten zu entwickeln. Ich schaue mir die Adresse auf dem Briefkopf an, gucke sicherheitshalber im Stadtplan nach – und kurz entschlossen fahre ich los. Zur Uni! Ich werde mich für eine Prüfung anmelden! Jetzt! Sofort!

Als ich aus dem U-Bahnhof Ernst-Reuter-Platz steige, fallen mir tausend Bilder aus meiner Studienzeit wieder ein: Es ist, als wäre es gestern erst gewesen! Ich fühle mich zehn Jahre jünger und erkenne alles sofort wieder. Bis auf das Gebäude, vor dem ich jetzt stehe. Gehe trotzdem mit jugendlichem Elan in den dritten Stock. Klopfe an der Tür der Sekretärin meines Professors, um mich zur Prüfung zu melden. Der Mann von der Telefongesellschaft erklärt mir freundlich, dass die TU das Grundstück schon vor fünf Jahren verkauft habe und deshalb von seiner Firma hier dieser schicke Neubau errichtet worden sei. Mein Enthusiasmus bekommt einen kleinen Dämpfer. Aber so schnell lasse ich mich nicht entmutigen. Bin schließlich ein alter Hase an der Uni. Erinnere mich an das Hauptgebäude und gehe hin. Kenne sogar noch die Abkürzung. Als ich das Straßenschild »Alt-Moabit« sehe, verfestigt sich allerdings das Gefühl, dass sich irgendwas verändert hat. Lasse mich von einem Taxi zurück zur Uni fahren. Gehe zum Pförtner im Hauptgebäude. Ehe ich grüßen kann, sagt der mir: »Das Arbeitsamt ist hier nicht mehr.« Erkläre ihm, dass ich Student bin. Er lacht herzlich. Erkläre ihm, dass ich wirklich Student bin und mein Institut suche. Er lacht noch herzlicher. Dann erklärt er mir, dass dieses sich schon lange am neuen Forschungsstandort in Karlshorst befände, nicht mehr hier in der wertvollen Innenstadtlage. Mein Enthusiasmus erleidet einen weiteren Dämpfer. Gebe aber nicht auf. Stelle mir bei Ullrich am Zoo einen Picknickkorb zusammen und fahre gen Osten. Finde gleich an der angegebenen Adresse die schönen, neuen, großzügig verglasten Gebäude und strebe freudig dorthin. Der Pförtner der Telefongesellschaft deutet auf eine Industrieruine und sagt, es sei nicht mehr weit.

Ein handgeschriebener Zettel lässt mich erkennen, mein Ziel gefunden zu haben. Schaue mich suchend im Institut um. Alle Zimmer sind verlassen. An einem Raum steht »Labor«. Öffne die Tür und erkenne sofort, dass ich richtig bin: In der Mitte des Raumes steht eine klobige Maschine, ein Gaschromatograph mit einem Preußen-Münster-Aufkleber, den ich im Grundstudium in Anspielung auf die Drittklassigkeit des Gerätes während eines Praktikums darauf geklebt hatte. »Das Ding gibtʼs noch?«, entfährt es mir. Ein alter, gebrechlicher Mann kommt dahinter zum Vorschein: »Ja, den wollte bei der Versteigerung keiner haben.« Erkenne meinen Professor wieder. Mein Enthusiasmus ist erstorben. Ziehe das jetzt aber durch. Sage ihm, ich möchte von ihm geprüft werden. »In welchem Fach sagten Sie?« Wiederhole mein Anliegen. »Das gibtʼs in der neuen Prüfungsordnung nicht mehr. Da sollten Sie in der Studienberatung erst mal nachfragen, ob das noch geht.« Das mulmige Gefühl steigert sich. Frage ihn nach Prof. Schepp, bei dem ich auch noch eine Prüfung machen muss. »Oh, gut dass Sie mich daran erinnern«, erwidert er müde, »da ist nächste Woche das 1-Jahres-Seelenamt.«

Sacke in mich zusammen. Er beruhigt mich etwas, als er sagt, die Studienberatung sei immer noch am selben Ort wie früher. Fahre zurück zum Ernst-Reuter-Platz. Meine Zuversicht wächst, als ich das Zimmer auf Anhieb finde und keine wesentlichen Veränderungen feststellen kann. Sogar die Studienbüroleiterin meine ich noch zu kennen. Spüre vorsichtigen Optimismus keimen. »Was wollen Sie, alter Mann?«, fragt sie mich. Schaue genauer hin, staune: »Bist du nicht Vera?« Vera war als Studienanfängerin während der letzten Erstsemestereinführungswoche, die ich damals als Tutor betreut hatte, in meiner Gruppe gewesen.

»Heiko?« staunte sie zurück. Das war ein Wiedersehen! Ja, nach ihrem Diplom sei sie erst ein paar Jahre arbeitslos gewesen, habe dann eine Umschulung gemacht; dann hatte sie zwar immer noch keinen Job, aber immerhin einen Mann gefunden – man muss halt nehmen, was man kriegen kann. Jetzt, wo ihre Kinder zur Schule gehen, habe sie auch wieder Lust, etwas zu arbeiten. Freue mich, dass es ihr gut geht. Sie verspricht, sich um alles zu kümmern.

Jetzt nur noch die letzte Hürde: zum Prüfungsamt. In einem Anflug von Sentimentalität beschließe ich, vorher zur Mensa zu gehen. Der freundliche Herr am Einlass erklärt mir, dass dies die Kantine der Telefongesellschaft sei. Die Mensa befinde sich jetzt in Karlshorst. Esse die Reste aus meinem Picknickkorb und gehe bangen Schrittes zum Prüfungsamt.

Von außen sieht alles aus wie früher. Gehe hinein. Auch hier: alles wohl vertraut. Öffne die für meinen Fachbereich und Buchstaben zuständige Tür – und traue meinen Augen kaum: Herr Scheibner! Er sieht genauso aus wie vor zehn Jahren, als ich das letzte Mal hier war. Dieselbe Glatze! Dasselbe Hemd! Dieselbe zusammengesunkene Haltung auf demselben quietschenden Bürodrehstuhl mit dem durchgesessenen Sitzpolster! Er sieht immer noch aus, als stünde er nur Monate vor der Pensionierung. Bin beeindruckt, wie gut er sich gehalten hat.

Illustration: Oliver Grajewski

»Sie sind ja immer noch hier!«, entfährt es mir. Mürrisch wie eh und je schaut er zu mir auf: »Das wollte ich auch gerade sagen.« Und fährt fort: »Ich, ich gehe in zwei Jahren in Rente. Und Sie?« Sage ihm, dass ich mich zu einer Prüfung anmelden wollte. Er hustet heftig. Wiederhole mein Anliegen. »Na, dann muss ich wohl mal rüber zum Altpapier, junger Mann.«

Junger Mann! Das sagt der Berliner, lustig wie er ist, an der Supermarktkasse zum Greis im Rollstuhl – »Machense ma Platz, junger Mann!« Fühle mich jetzt auch gebrechlich. Setze mich zum Warten. Zwei Stunden später kommt Herr Scheibner staubbedeckt zurück und knallt eine Akte auf den Tisch. Ein paar verschreckte Motten flattern auf. Aber – er findet alles.

»Na, dann füllen Sie das hier mal aus.« Er schiebt mir eines der alt vertrauten Formulare vor. Mir wird bei dem Anblick ganz warm ums Herz. Schreibe aus alter Gewohnheit bei der Adresse: »1000 Berlin 65«. Trage alles ordnungsgemäß ein und schiebe ihm den Zettel zu. Beschwingt verlasse ich das Amt. Alles wird doch noch gut werden. Es ist beruhigend, wenn es ein paar feste Säulen im Leben gibt.