Jürgen Witte: Glaubensfragen

»Aber dann glaubst du ja an garnix!« schreit der Kerl. Ich denke, ich hab mich verhört. Die zwei halbwüchsigen Hängeschlabberhosenträger mit ihren Schulruck-säcken werden doch nicht hier auf dem Ringbahnsteig Papestraße tatsächlich in einen theologischen Disput verwickelt sein? Ausgerechnet hier im Brachflächen- und Autobahndreieck-Niemandsland zwischen Tempelhof und Schöneberg.

»Klar glaub ich an was, ich glaub an Geld!« sagt der andere. »Reichtum! Luxus! Das ist es, woran ich glaube!«

Leider hatte ich verpasst, an was der andere Siebtklässler glaubt. Jesus? Gott? Möglicherweise glaubt er auch auch an Allah und seinen Propheten? Vieles wäre möglich. Die zwei unterhalten sich in diesem gebellten Jungmännerdeutsch, das auch auf türkisch-arabische Wurzeln hindeuten könnte.

»Geld! Das ist das einzige, an was ich glaube!« schreit der Agnostiker nochmal und schubst sein Gegenüber rüde von sich. Er sieht nicht gerade so aus, als sei seine Familie besonders reich mit eben dem Stoff gesegnet, an den er seinen ganzen Glauben hängt. Aber wer weiß, vielleicht fährt sein großer Bruder schon einen Dreier-BMW. Er schubst nochmal. Der andere schubst zurück. In der Ferne sind die Hochhäuser des Potsdamer Platzes zu sehen.

Kurz sieht es so aus, als wollen die beiden sich wirklich miteinander schlagen. Der, der nicht nur an das schnöde Geld, sondern auch noch an was vermutlich Transzendentes glaubt, schreit den anderen an, sagt, dass dieser einem echt leid tun könne. Man beachte die unpersönliche Konstruktion des Satzes, er sagt nicht: »Du tust mir echt leid«, er sagt: »Du kannst einem echt leid tun!« Er verallgemeinert seine Aussage und stellt seinen Angriff damit auf eine viel breitere Basis.

Der so Angegriffene verteidigt sich, und macht anhand allfälliger Beispiele, Auto, Klamotten, Swimming-Pool klar, welch hohen Wert das von dem anderen gescholtene Geld in dieser Welt doch hat. Ja, und daran glaube er eben, und sonst an garnix.

Das Geschubse geht weiter, nahe der Bahnsteigkante sind die zwei jetzt in eine handgreifliche Kabbelei verwickelt. Nach Süden hin blinken die Fenster der leerstehenden Büros eines türkis glänzenden Neubaus am Sachsendamm, und weiter hinten ragt das schäbige Hochhaus des Steglitzer Bezirks- und Sozialamts in den bewölkten Himmel.

Was soll ich tun? Einschreiten? Welche Partei ergreifen? Gott oder Geld, Mammon oder Mohammed? Oder doch vielleicht mehr so neutral? Dem Motto Friedrichs des Zweiten gemäß, dass hier in Berlin ein geistesfreies Klima herrschen soll, in dem doch jeder nach seiner Façon selig werden dürfe?

Werden sie mich dann für ein komplettes Weichei halten und zusammen auf mich losgehen?

Es war dann alles gottlob doch nicht ganz so schlimm. Die beiden ließen, theologisch sichtlich unversöhnt zwar, aber sie ließen doch voneinander ab. Wenn man über Gewalt unter Jugendlichen spricht, kann man sich gar nicht genug Gedanken darüber machen, wo bisweilen doch die Gründe dafür liegen mögen.

Jürgen Witte

Jürgen Witte (*1956 in Karlsruhe). 1979 Flucht nach Berlin (West). Vortragender Autor beim ›Frühschoppen‹ und in der ›Reformbühne‹. Salbader-Senioren-Redakteur, lebt in Steglitz und hat nur das alte Web 1.0.