Horst Evers: In Rheine

In Rheine…«, sagte der Mann in der Regionalbahn, »In Rheine…«, und ich hörte zu, »In Rheine…«, und ich war gespannt, was er über Rheine Erschütterndes wußte, »In Rheine…«, und ich dachte: Ob da wohl noch was kommt, »In Rheine…«, und ich beschloss, nun zu zählen, wieviele Anläufe für seinen Satz er wohl noch nehmen würde, »In Rheine…«, und ich staunte – sechs! »In Rheine…da is doch nix los. Wennʼde was erleben willst, dann mußte nach Münster fahren. Da is was los!«

Und ich dachte: »Wennʼde was erleben willst, musste nach Münster fahren.« Oh mein Gott. Ich fuhr also nach Rheine und ich erwartete nichts. Gar nichts.

Aber dann: Im Restaurant. Zwei Tische weiter sitzt eine Familie. Mutter, Vater und ein ca. 4-jähriges Kind. Die Kellnerin steht auch da und erwartet die Bestellung. Die Familie hat Streit. Das Kind weigert sich, die Kinderspaghetti zu bestellen, will eine reguläre Portion Makkaroni mit Pilzsauce. Der Vater ist wütend.

»Und dann isst Du wieder nur die Hälfte. Nimm die Kinderspaghetti, die schaffst du.«

Das Kind bleibt bockig: »Ich hab aber keine Lust auf diese blöden Spaghetti. Ich will Makkaroni.«

»Die Nudeln schmecken alle gleich, nur die Form ist anders.«

»Gar nicht!«

»Aber doch.«

»Ich will die Makkaroni!«

»Na gut, aber wehe du isst deinen Teller nicht leer. Das musst du jetzt mal begreifen. Was man sich bestellt, muss man auch aufessen. Sonst gibts Ärger, ist das klar?«

Die Kellnerin geht jetzt lächelnd dazwischen: »Ich denke wir kriegen das schon hin.«

Dann nimmt sie die restlichen Bestellungen auf, Pizza für die Mutter, Pasta mista für den Vater, und verschwindet grinsend in die Küche.

Eine Viertelstunde später bringt die Kellnerin das Essen. Eine adrette, gut überschaubare Kinderportion Makkaroni, Pizza für die Mutter und einen gigantischen Teller, nein eine Platte, quasi ein riesiges Tablett turmhoch gefüllt mit Nudeln jedweder Couleur für den Vater. Nicht ohne eine gewisse Kraftanstrengung stellt sie den halben Kubikmeter Nudeln vor ihm ab und strahlt ihn an: »So, und schön den Teller leeressen!«

Dann geht sie glucksend zurück. Mutter und Kind, das halbe Restaurant lacht los. Der Vater starrt entsetzt und blass auf sein Nudelgebirge. Er sagt nichts. Dann jedoch bekommt sein Gesicht plötzlich einen entschlossenen Zug. Er greift zur Gabel und beginnt sein Martyrium.

Die anderen Gäste beobachten ihn. Stühle werden gerückt, um einen besseren Blick auf den Mann und seine Nudeln zu bekommen.

Stunden vergehn. Nudel für Nudel arbeitet sich der Mann voran. Sein Tempo ist langsamer geworden. Dennoch führt er nach wie vor stetig, fast schon mechanisch, eine gefüllte Gabel nach der anderen in seinen Mund. Sein glasiger, leerer Blick scheint nur noch auf den Nudeltrumm gerichtet, der aber nicht wirklich kleiner wird. Die Tische des Restaurants sind mittlerweile angeordnet wie in einer Arena. Alles schaut nur noch dem Mann zu, diskutiert, Wetten werden abgeschlossen. Die meisten Gäste haben mittlerweile ihr Essen abgeschlossen, bestellen aber immer wieder Getränke nach, um nichts vom Schauspiel zu verpassen. Mutter und Kind haben längst jeden Kontakt zu ihrem Familienmitglied verloren. Fassungslos starren sie ihn an. Die anderen sind sich einig: Dies ist das größte Ereignis in Rheine, seit Volker Schmidmann vor fünf Jahren beim Versuch seine eigene Scheune anzuzünden ums Leben gekommen war.

Viele Stunden später, gegen Mitternacht, ist das Restaurant, das eigentlich um 22 Uhr schließt, völlig überfüllt. Es ist sehr laut. Mutter und Kellnerin geben Interviews für verschiedene Zeitungen und Radiosender, die mittlerweile Reporter geschickt haben. Die Nudelplatte ist jetzt fast leer. Der Mann ist längst nur noch ein Nudeln verzehrender Schatten. Seine Hand zittert, aus dem Innern seines Körpers kommen mannigfaltige, skurile Geräusche. Dann sind es nur noch 5 Nudeln. Die mit-fiebernde Menge zählt runter: 5–4–3–2–1… es ist fast geschafft. Der Mann hält die letzte Nudel vor seinen Mund. Lässig schaut er zur Kellnerin und sagt: »Die Dessertkarte bitte.« Die Menge johlt. Dann legt er die letzte Nudel wieder ab, lächelt zu seinem Kind herüber: »Tut mir leid, aber ich schaffʼs nicht.« Steht auf und geht wie ein Herr zur Toilette. Er wird lange Zeit dort sein.

Ja, wir haben sie noch, die wahren Helden. In Rheine, da sitzen sie und essen Nudeln.